Beinahe zu spät.
Die Spitze der anderen Klinge ritzte meine Wange, bevor ich sie abwehren konnte, einen Hieb nach dem anderen parierte, angestrengt und in blindem Reflex.
Ein halbwüchsiger Bursche war es, der das Schwert führte.
Ein Hänfling mit geschorenem Kopf. Ohne den langen Zopf, den die Mandschu-Herrschaft allen Männern im Reich vorschrieb.
Kein allzu schlechter Kämpfer. Aber auch kein besonders geschickter.
Noch dazu mit einem Schwert, das zu groß, zu schwer für ihn war, aus einfachem trockenen Stahl; das hörte ich an dem Kreischen, das es von sich gab, wenn meine Klinge in einem bestimmten Winkel darauf traf.
Trotzdem hatte ich Mühe, mich gegen ihn zu behaupten. Ich war nicht im Einklang mit meinen Bewegungen, meinem Atem, mit mir selbst.
Ich verfluchte Fortune und seine Blumen, die mich hierhergeführt hatten. Meine Gedanken so sehr beschäftigten, dass ich wie blind und taub meine Vorsicht vergessen hatte.
Ich verfluchte diesen Jungen, der offenbar jianghu sein wollte, aber keine Ahnung von Ehre hatte. Sich für einen jianke, einen Schwertsmann, hielt, ohne eine anständige Waffe in der Hand, ohne ein tieferes Verständnis von Klinge und Kampf.
Ich verwünschte mich selbst, überhaupt nach Shanghai gekommen zu sein.
Die Schläge der Klingen, mal silberhell, mal scharf, fanden ihr Echo in meinem Herzschlag, meinem Atem.
Wie ein Windstoß, der durch Herbstlaub am Boden fährt, leerte sich mein Geist, fand ich meine Balance, meinen Fokus, mein Tempo.
Schritt um Schritt, Hieb um Hieb trieb ich den Jungen vor mir her. Unsicherheit flackerte in seinen Augen auf, dann Furcht.
Die größte Schwäche in jedem Kampf.
Ich holte aus und fegte das Schwert aus seiner Hand. In hohem Bogen flog es davon und landete scheppernd auf der Gasse.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in den Schatten der Mauern etwas regte. Eine Silhouette löste sich aus dem Dunkel, nahm die Gestalt eines Mannes an. Dieses Mal war ich aufmerksamer, drehte mich mit erhobenem Schwert so, dass ich beide im Blickfeld hatte.
»Was wollt ihr? Ich besitze nichts von Wert. Ich bin jianghu, genau wie ihr.«
»Ich weiß.«
Etwas an dem zweiten Mann irritierte mich. Etwas an seiner Haltung. In seiner Stimme.
Er hob die Linke, wie zum Gruß.
»Ich erinnere mich gut. Obwohl es lange her ist, Mei-mei.«
Die mittleren drei Finger der Hand waren gleich lang, wirkten plump.
In meinem Schwertarm zuckte ein Muskel, als erinnerte er sich ebenfalls.
Die Klinge meines Schwerts war es gewesen, die diese Fingerglieder abgetrennt hatte. In einem Streit, nachdem Älterer Bruder einmal mehr seine Hände nicht bei sich behalten konnte.
Nicht nur bei mir.
Es hatte lange gedauert, bis ich in den Nächten wieder tief und fest schlafen konnte. Nicht mehr ständig diese Augen auf mir spürte, die sich an mir festsaugten, wenn ich Wasser holte, aus meiner Schüssel aß oder mein Schwert schärfte. Nicht mehr diese Stimme in meinem Ohr hatte, die mir Zoten zuzischte, bevor seine Hände nach mir tasteten, sein schwefliger Atem über meine Haut fuhr. Obwohl er damals immer den Löwenanteil der Mahlzeiten für sich beanspruchte, war er hager gewesen, fast knochig.
Inzwischen sah er wohlgenährt aus; sein Gesicht, früher spitz und listig wie das eines Mungos, hatte sich zu dem eines Mondbären gerundet. Seine Haare trug er länger, als ich sie in Erinnerung hatte, auf dem Oberkopf zu einem Knoten gebunden. Und auch wenn er sich schlicht kleidete, ließen Stoff und Schnitt seiner Jacke und seiner Hosen ahnen, dass sie teuer gewesen waren.
Womit Älterer Bruder heute auch sein Brot verdiente – er lebte gut davon.
»Wie ich sehe, hast du nichts von dem vergessen, was wir dir damals beigebracht haben.«
Er versuchte, mich bei meinem Stolz zu packen. Bei meinem wunden Punkt, dafür hatte er immer ein untrügliches Gespür gehabt.
Ich sah zu dem Jungen hin, der sich mit hochgezogenen Schultern an die Hausmauer drückte. Verlangend schielte er zu seinem Schwert hin, tastete sich bereits mit einem Fuß vor.
Ein Blick von mir, und er gab sein Vorhaben auf, sank in sich zusammen.
Fast tat er mir leid. Ich wusste, welche Verlockung von der Macht ausging, ein Schwert in der Hand zu halten. Wie schnell man dabei an seine Grenzen stieß und wie bitter diese Demütigung schmeckte. Es war schwer, diese Grenzen zu erkunden und auszuweiten. Man musste nicht nur seinen Leib schulen, sondern auch seinen Geist. Lernen, eins zu werden mit seinem Schwert.
Ein langer, steiniger Weg war es, für den die wenigsten die Geduld aufbrachten. Die Demut.
Ich war selbst allzu oft kurz davor gewesen, aufzugeben. Hätte ich denn eine Wahl gehabt.
»Nichts davon hat mir einer von euch beigebracht. All das konnte ich schon, bevor ich zu euch kam. Aber mit dir vor Augen habe ich gelernt, wie jianghu niemals sein soll. Wie ich niemals sein will.«
»Natürlich. Mei-mei, die tugendhafte Schwertmaid. Die des Nachts lieber bei ihrer Klinge liegt als bei einem Mann aus Fleisch und Blut.«
Wie ein Stachel in meinem Fleisch war die Erinnerung daran, dass ich ihn einmal anziehend gefunden hatte. Wie seine Aufmerksamkeit mir schmeichelte. Ganz zu Anfang, als mich noch seine Selbstsicherheit beeindruckte. Seine Aura von Stärke und Freiheit und Unbezähmbarkeit.
Mit der er Yun ähnelte und doch ganz das Gegenteil von Yun zu sein schien.
Bis ich den niederträchtigen Zug an ihm entdeckte. Seine Bösartigkeit und Kälte. Die einzige Entschuldigung, die ich hatte und jemals haben würde, war, dass ich zu jener Zeit ein gebrochenes Herz gehabt hatte. Eine zutiefst verwundete Seele gewesen war.
»Wenn du nur jemals ein echter Mann gewesen wärst, Älterer Bruder.«
Leichthin sagte ich das, fast fröhlich.
Die Art, wie er jetzt sein Gesicht verzog, war unverändert. Daran hätte ich ihn auf Anhieb erkannt.
»Ist ein kwei-tsz mehr nach deinem Geschmack?«
Ich war wirklich blind und taub gewesen. Vermutlich schon seit ich Fortune in die Garküche geführt hatte.
»Monströs sollen sie sein. Missgestaltet. Das erzählen die Blumenmädchen der Stadt. Entlohnt er dich gut dafür?«
Mit einem leichten Druck meiner Finger ließ ich die Klinge meines Schwerts vibrieren.
»Ich hätte dir die Zunge abschneiden sollen. Oder gleich etwas ganz anderes.«
Älterer Bruder lächelte nur. Dieses dünne, freudlose Lächeln, mit dem er einem zu verstehen gab, wie überlegen er sich fühlte.
»Auf welcher Seite stehst du, Mei-mei? Auf der unseres Landes oder auf der der Barbaren?«
Seine flammenden Reden von Aufständen und neuen Zeiten waren mir immer verhasst gewesen. Den lieben langen Tag konnte er sich darin ergehen und dabei auf seinem faulen Hintern sitzen. Während alle anderen sich sämtliche Arme und Beine ausrissen, damit jeder in der Gemeinschaft satt wurde und einen Faden am Leib hatte.
»Seit wann liegt dir die Herrschaft der Mandschu am Herzen?«
»Das Reich des Himmelssohnes wird fallen, Mei-mei«, erklärte er langsam und mit überdeutlicher Betonung, als ob er mich für begriffsstutzig hielte. »Aber nicht an seine Feinde. Nicht in die Hände der Barbaren.«
»He!«
Wie ein Donnerschlag polterte dieser Ruf durch die Gasse, rollte von den Mauern zurück.
Ein Riese kam auf uns zu, steifbeinig vor Entschlossenheit, in seiner Hand eine kleine Feuerwaffe.
»Geh!«, rief ich Fortune zu. »Geh weg!«
Er hörte nicht auf mich, lief unbeirrt weiter auf uns zu.
Was für ein Narr er doch war.
Ich hoffte, ich war die Einzige, die bemerkte, wie übervorsichtig er die Waffe hielt, fast zaghaft.
Älterer Bruder war nie geschickt mit dem Schwert gewesen, er konnte damit noch nicht einmal das Grün einer Rübe sauber abtrennen.
Seine Waffen waren die kleinen Schmetterlingsschwerter, die er überall zwischen seiner Kleidung am Körper trug und in seinen Stiefeln stecken hatte.