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Ich hatte niemals mehr jemanden getroffen, der sie so kunstfertig fliegen lassen konnte wie Älterer Bruder, flink und zielgenau wie Pfeile.

»Schau ihn dir an, Mei-mei. In seiner ganzen barbarischen Scheußlichkeit. Wie mächtig er sich vorkommt. Als bräuchte er nur mit diesem lächerlichen Ding in seiner Hand zu winken, und ich würde vor Angst zu zittern anfangen. Wie die neuen Herrscher dieses Reiches führen sie sich auf. Er und seinesgleichen sind es, die dieses Land mit Opium fluten. Mit diesem fremden Dreck, der unser Volk versklavt und vergiftet. Sag, Mei-mei – wo ist da dein Stolz? Dein Gewissen? Deine ach so geschätzte Ehre?«

Ich nahm mir keine Zeit für eine Antwort. Jeden Augenblick konnte Älterer Bruder eine seiner Schmetterlingsklingen hervorzaubern und von sich schleudern wie einen Blitz.

Langsam holte ich mit meinem Schwert aus und streckte den anderen Arm vor. Über zwei hochgereckte Finger hinweg fixierte ich Älterer Bruder, jeden Muskel angespannt wie die Sehne eines Bogens. Er hatte lang genug das Leben mit mir geteilt, um zu wissen, dass ich ihm damit den Kampf erklärte.

Älterer Bruder musterte abwechselnd Fortune und mich.

»Über kurz oder lang wirst du vor der Wahl stehen, Mei-mei. Wähle gut.«

Auf ein Kopfrucken von ihm setzte sich der Junge in Bewegung. Hastig, als könnte er nicht schnell genug von mir wegkommen, und während er im Laufen sein Schwert von Boden aufklaubte, fing ich einen ängstlichen Blick von ihm auf.

Das steinerne Maul der Stadt verschluckte sie beide.

Fortune ließ seine Waffe sinken. Bäche von Schweiß rannen über sein Gesicht, das im Schatten der Mauern fahl aussah.

Ich schob mein Schwert zurück in seine Scheide. Erst jetzt bemerkte ich, dass auch ich trotz der Kälte unter meiner Jacke durchgeschwitzt war.

»Du blutest.«

Er wühlte in seiner Hosentasche und förderte ein weißes Stoffquadrat zutage, schickte sich an, es auf meine Wange zu drücken.

Unwillig bog ich den Kopf zurück.

»Ist unbenutzt«, erklärte er, eine Spur gekränkt.

Ich presste den Ärmel meiner Jacke auf die Wunde.

»Nicht schlimm«, murmelte ich. »Nur gekratzt.«

Er deutete mit dem Kinn zu der Stelle, wo eben noch Älterer Bruder und sein halbwüchsiger Handlanger gestanden hatten.

»Wer war das?«

»Niemand.«

Ich erkannte den Zweifel in seinen Augen. Hoffte trotzdem, er würde sich damit zufrieden geben.

»Es sah aus, als würdet ihr euch kennen.«

Seine Neugierde entfesselte den Zorn, den ich die ganze Zeit über in Schach gehalten hatte.

»Schlechter Mensch«, spie ich aus. »Schlechter jianghu. Feige und gemein.«

Es gelang mir nicht, meine Gedanken sorgfältig in die andere Sprache zu übertragen. Ich stolperte über die fremden Laute, und es war mir egal.

»Denkt, er ist großer Mann. Anführer. Wegen ihm nicht mehr bei anderen jianghu

Gesichter flackerten an meinem inneren Auge vorüber. Jüngerer Sohn. Kleiner Bruder. Dritte Schwester. Zweiter Onkel. Ich erinnerte mich an das Gefühl, wieder ein Zuhause zu haben. Eine Familie. In einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein und gleichzeitig frei. Indem wir die Grenzen von Geschlecht und Stand beiseite fegten und jeder gleich viel zählte.

Es tat weh, mich des Unbehagens zu entsinnen, als ich allmählich erkannte, dass es nichts als eine Illusion war. An mein enttäuschtes Aufbegehren, von dem schließlich nichts als Verachtung übrigblieb. Jeder von uns hatte die Fesseln seines alten Lebens abgeschüttelt, um dann in diesem Kreis von jianghu doch wieder in der gleichen Falle zu landen. In einer Hackordnung. In einem Ringen um Macht und Stellung und die besten Bissen aus dem Suppentopf.

Danach hatte ich nie wieder versucht, irgendwo dazuzugehören. Irgendwo Wurzeln zu schlagen.

»Immer viel geredet. Von Freisein und Gleichsein. Brüder und Schwestern. Nur Worte! Alle Diener für ihn. Frauen nichts wert. Nur gut zum Essen machen. Als Spielzeug.«

Meine Augen brannten, als ich an Dritte Schwester dachte, die nicht stark genug gewesen war, um Älterer Bruder die Stirn zu bieten. Um meine Hilfe anzunehmen und mit mir fortzugehen.

Was wohl aus ihr geworden war?

Fortune brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was ich gemeint hatte. Er wandte seinen Blick ab, und sein Gesicht nahm eine lebhafte Farbe an. Wie er dabei mit der Feuerwaffe herumspielte, machte mich nervös.

»Vorsicht!«, fuhr ich ihn an.

Fortune betrachtete die Waffe, als wüsste er nicht, was er da in der Hand hielt.

»Sie ist nicht geladen. Ich … ich kann damit nicht gut umgehen.«

Er war ein noch größerer Narr, als ich geglaubt hatte.

»Ich …«, sprach er langsam weiter. »Ich wollte unseren Abschied nicht so stehen lassen. Deshalb bin ich umgekehrt. Um zu sehen, ob ich dich noch irgendwo finde. Dann habe ich etwas gehört und bin den Geräuschen gefolgt.«

Die Überwindung, die es ihn kostete, fortzufahren, machte seine Stimme kehlig.

»Mutig wollte ich sein. Verwegen. Aber ich weiß nicht, ob ich hätte abdrücken können, wäre sie geladen gewesen.«

War er wirklich nur ein Narr oder womöglich einer der seltenen Menschen mit einem guten Herzen?

Mein Blick kam auf seiner Waffe zur Ruhe. Ich hatte von solchen Waffen schon gehört. Doch noch nie hatte ich eine aus der Nähe gesehen oder gar in der Hand gehalten.

»Darf ich?«

Bereitwillig überließ er sie mir.

Ich war erstaunt über ihr geballtes Gewicht. Wie eine Faust aus Eisen und Holz, von einer dunklen Kälte. So anders als mein Schwert, das auch kalt war, aber hell, weil es immerzu das Licht reflektierte. Mit einem purpurnen Schimmer wie ihn nur der allerbeste Stahl aufwies.

Kurz war es, für ein jian, und leicht, es wog nur etwas über zwei ji. Geschaffen für einen Kämpfer von meiner Statur, meinem Wuchs. Alt war es, noch in der vorangegangenen Ära der Ming hergestellt. Zwei Jahre lang hatte ein Schmied den Stahl wieder und wieder ins Feuer gehalten, gefaltet und gehämmert. Bis hartes und weiches Metall zu einer Klinge zusammengewachsen waren, die wie Diamant war und doch so biegsam wie eine Feder.

Ein solches Schwert war in der Hand eines ausgebildeten jianke mehr als die Verlängerung seines Armes. Zu Stahl gewordener Atem war es. Ein zwei Finger breiter Flügel. Nur die Schmiede von Lonquan, der Stadt des Drachenbrunnens, konnten solche Schwerter herstellen.

Long Yuan, so hieß es: Drachenschlucht.

Eigentlich hätte es im Kloster bleiben sollen. Dort gehörte es hin, nachdem man es aus den Ruinen des alten Gebäudes geborgen hatte. Das zweite Kloster an dieser Stelle, das die Armeen der Mandschu zerstört hatten, seitdem sie vor zwei Jahrhunderten aus dem Nordosten eingefallen waren, das Land mit Krieg überzogen und die Herrschaft an sich rissen.

Ein Schicksal, das dem dritten Klosterbau erspart bleiben sollte. Dafür sollten gut ausgebildete Kämpfer sorgen, mit Schwertern wie dem Long Yuan.

Meister Qiang hatte es mir trotzdem geschenkt, als ich ihn verließ.

Ein Geschenk, das zweischneidig war wie seine Klinge.

Eine Auszeichnung. Eine Ehre.

Aber auch eine stete Mahnung, was ich hinter mir gelassen hatte. Warum ich hatte gehen müssen.

Eine Bürde, die ich erst nach und nach zu spüren begann, während ich mit Long Yuan durch das Land zog.

Ich trug sie gern. Sie erinnerte mich immer daran, dass ich meine Wahl getroffen hatte und mir dabei selbst treu geblieben war.

All das ging mir durch den Kopf, während ich die Feuerwaffe untersuchte, hier drückte, dort zog. Ihre Mechanik verstehen lernte und die Handwerkskunst bewunderte.

Auf der Suche nach dem Elixier der Unsterblichkeit hatten die Mönche des Dao vor Hunderten von Jahren das Schießpulver erschaffen. Doch es waren die fremden Barbaren, die dazu solch wirksame Waffen gebaut hatten.

Kleine Waffen wie diese hier. Gewehre. Kanonen. Die die Küsten unseres Landes mit Feuer überzogen und mit Blut tränkten. Das mächtige Reich des Himmelssohns in die Knie zwangen.