Wie viel einfacher musste es sein, mit einer solchen Feuerwaffe zu kämpfen.
Ohne die Anleitung eines Meisters. Ohne die scharfen Kommandos, mit denen er einem das Äußerste abverlangte. Keine jahrelangen Übungen im Faustkampf mit Gegnern, die größer, schwerer, erfahrener waren. Ohne den ganzen Körper in Anspruch zu nehmen und den Geist dazu. Ohne sich von den Faustkämpfen hochzuarbeiten, über den Bambusstock, die Lanze und den Degen, bis man die edelste aller Waffen führen durfte, das Schwert.
Wie bequem, aus sicherer Entfernung kämpfen zu können. Ohne dem Gegner in die Augen blicken zu müssen. Ohne Schweiß zu vergießen und das eigene Blut. Nur eine ruhige Hand, ein gutes Auge waren vonnöten für den Kampf mit dem Feuer.
Wie simpel. Wie ehrlos.
Trotzdem erschauerte ich bei dem Gefühl der Macht, die ich in den Händen hielt.
Jeder Meister, unter dem ich lernte, hatte mich früher oder später gerügt, ich würde den Kampf zu sehr lieben. Um des Kämpfens willen. Weil ich den Sieg begehrte. Die damit verbundene Macht genoss.
Von dem Tag an, an dem ich zum ersten Mal einen Bambusstock in die Hand gedrückt bekam, hatte ich gewusst, dass ich zum Kämpfen geboren war. Meine einzige Eitelkeit. Meine größte Schwäche.
Nur ein Tor würde dieser verlockenden Macht widerstehen, indem er eine Waffe bei sich trug, die nichts als bloßer Schein war. Oder ein Mensch von ganz und gar unschuldigem Wesen.
Was davon war Fortune?
Widerstrebend gab ich ihm die Waffe zurück. »Du musst lernen, damit zu kämpfen.«
Stirnrunzelnd wog er sie in der Hand.
»Ich schätze, das sollte ich. Wie einiges andere mehr. Ich … ich hatte gehofft, du könntest mir dabei helfen.«
Dieses Mal schlug ich das Angebot, das zwischen seinen Worten durchschien, nicht sofort aus. Es war meine Pflicht gewesen, ihn an der Pagode von Shenhu gegen die Bauerntölpel zu verteidigen. Meine Pflicht als jianghu, über die ich nicht weiter nachgedacht hatte.
Seitdem waren wir uns nicht nur zwei weitere Male begegnet, gegen jede Wahrscheinlichkeit. Seitdem lebte auch immer wieder meine Vergangenheit auf, in Gedanken oder in der leibhaftigen Gestalt von Älterer Bruder. Diese Vergangenheit, von der ich geglaubt hatte, sie hinter mir gelassen zu haben. Mit jedem Schritt, den ich auf meinen langen Wegen ohne Ziel gegangen war.
Ich verstand nicht, warum sie mich jetzt wieder einholte. Und warum durch Fortune. Den Gedanken an den roten Faden, mit dem die Götter zwei Menschen schon vor ihrer Geburt aneinander binden, wischte ich rasch beiseite. Schon einmal hatte ich daran geglaubt und war bitter enttäuscht worden. Und schließlich war Fortune auch nicht Yun. Sondern ein hässlicher Barbar vom anderen Ende der Welt. Aus einem Land, das so weit entfernt war, dass nicht einmal die Hände der Götter bis dorthin reichten.
Vielleicht konnte man vor seinen Erinnerungen nur eine begrenzte Zeit flüchten, und diese Zeitspanne war jetzt verstrichen.
Stattdessen brach eine neue Zeit an. Die Zeit, einmal einen Weg zu gehen, der ein Ziel hatte. Sei es nur das Ziel, etwas von meinem Wissen weiterzugeben. Fortune das zu lehren, was er brauchte, um sich in diesem Land halbwegs zurechtzufinden. Ihn so lange zu beschützen, wie er meines Schutzes bedurfte.
Die Zeit, etwas über die fremden Barbaren zu lernen. Über Fortune, diesen merkwürdigen Mann, der nach China gekommen war, um Blumen zu studieren, zu sammeln und in seine Welt mitzunehmen. Ihm zu helfen, seine Blumen zu bekommen.
Jetzt, kurz vor Beginn des neuen Mondjahres.
Man ist ein Schüler, wenn man seinem Meister begegnet. Und ein Meister, wenn man seinem Schüler begegnet.
Das waren die Worte Meister Qiangs gewesen, von dem ich am meisten gelernt hatte. Und den ich so bitter enttäuscht hatte.
Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel hinauf. Ein Himmel, der aussah wie saure Milch und der neuen Schnee versprach. Ich fragte mich, was Meister Qiang dazu gesagt hätte. Wie die alten Helden der jianghu gehandelt hätten.
In Canton würde es auf jeden Fall wärmer sein.
Jane steht am Fenster und schaut in die Winternacht hinaus, John auf dem Arm.
Wie eine Wärmflasche ist der Körper des kleinen Jungen, noch durch das Flanellnachthemd hindurch. Sein Gesichtchen, das in ihrer Halsbeuge ruht, glüht und ist nass von Tränen.
Der nächste Backenzahn macht ihm zu schaffen.
Jane streichelt seinen Rücken, während sie ein Wiegenlied summt.
Sie wünschte, sie hätte ihre Mutter hier, ihre ältere Schwester Mary oder diejenigen ihrer Freundinnen, die bereits Ähnliches bei den eigenen Kindern mitgemacht haben. Es wäre schön, einfach zu einer von ihnen hinüberzugehen und zu fragen, ob es denn nichts gibt, was ihrem Jungen das Zahnen erleichtert. Oder wenigstens selbst ihr Herz auszuschütten. Auf Verständnis zu treffen und auf Mitgefühl.
Der Kleine zuckt unter den letzten, schon schläfrigen Schluchzern; im Takt seines Atems öffnet und schließt sich seine winzige Hand an ihrer Schulter.
Sie blickt kurz nach hinten. Helen liegt in tiefstem Kinderschlaf, erschöpft nach dem stundenlangen Toben in der kalten, frischen Luft.
Im bläulichen Licht der Nacht sind ihre Züge vollkommen gelöst. Keine Spur mehr von ihrem Wüten, mit dem sie sich dagegen wehrte, ins Haus zu kommen, obwohl sie schon ein kleiner Eiszapfen gewesen war. Nichts mehr zu sehen von den Tränen, als die Wärme des Feuers ihre eingefrorenen Glieder schmerzhaft auftaute.
Hungrig nach Spiel und Abenteuer stürzt sich Helen jeden Tag in den Schnee, der so spät gekommen ist in diesem Winter. Erst Ende Januar, und dann gleich so viel davon.
Wie hell es ist, denkt Jane, als sie den Blick wieder auf die weiße Welt draußen richtet.
Wie still.
Wie einsam.
Jetzt im Winter rächt es sich, dass sie noch nicht lange genug in Chiswick wohnt, um Wurzeln geschlagen zu haben.
Ihre Kontakte beschränken sich auf einen knappen Gruß auf der Straße. Ein paar Worte über das Wetter heute beim Einkaufen. Ein kurzes Gespräch von Zaun zu Zaun über diesen eigenartigen Winter, die Hoffnung auf baldigen Frühling, über Blumenzwiebeln und das Zurückschneiden von Rosen.
Als sie hierher umgezogen sind, hat sie sich kaum Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, in England zur Kirche zu gehen; protestantisch ist schließlich protestantisch, nicht wahr?
Doch selbst im Vergleich zu den vielen Ablegern der Kirche in Schottland scheint der Glaube in England gleich ein ganz anderes Gewächs zu sein. Mit einem anderen Gebetbuch, anderen Liedern, anderen Worten.
Sie wird sich daran gewöhnen, mit der Zeit, sagt sie sich selbst. Doch noch stört es ihre Andacht, dass sie darauf achten muss, was als Nächstes kommt. Wann sie aufstehen und sich wieder setzen muss, wann niederknien. Eine Unsicherheit, die sich auf die Kinder überträgt; mehr als einmal erntet sie mitleidige oder sogar entrüstete Blicke, wenn es ihr nicht gelingen will, die beiden in der Kirchbank von St. Nicholas ruhig zu halten.
Ihr fehlt der vertraute Rahmen des Gottesdienstes. Die Zusammengehörigkeit im Gebet und in den Liedern. Das sichere, warme Nest einer Gemeinde.
Ohne Robert ist sie in Chiswick die fremde Schottin mit dem schwerfälligen Akzent, deren Mann nur ein paar Monate lang im Dorf gesehen wurde, bevor er verschwunden ist.
Jane hat die langen Winterabende genutzt, um Briefe zu schreiben: an ihre Schwestern und ihre Freundinnen von früher. An die eigenen und Roberts Eltern. Sie weiß, sie wird lange auf Antwort warten. Sofern sie überhaupt eine erhält. In deren Welt ist das Schreiben von Briefen ein Luxus, den man sich nur selten gönnen kann. Das Leben dort verläuft in einem anderen Takt, stellt andere Ansprüche.