Während Jane ihren Sohn auf dem Arm schaukelt, denkt sie darüber nach, ob sie sich wirklich so sehr verändert hat, seit sie aus dem Cottage ihrer Eltern ausgezogen ist.
Sie will es sich nicht eingestehen, aber sie hat Heimweh.
Nicht nach dem Leben dort als solches, das ungleich härter ist als ihres hier in Chiswick. Sie ist froh, das hinter sich zu wissen. Manchmal sehnt sie sich nach der Weite der Landschaft, die weniger lieblich ist als hier, eine raue Note aufweist. Nach den Wäldern, die es hier weit und breit nirgendwo gibt.
Vor allem ihre Schwestern vermisst sie, ihre Freundinnen von früher. In Swinton war sie das Mädchen, das es von dort herausgeschafft hat, in die große Stadt. In eine vielversprechende Ehe und sogar bis in den Süden Englands.
In Chiswick ist sie niemand.
Allein, mit den Kindern.
Trotzdem hat sie die Einladung der Lindleys für das Weihnachtsfest ausgeschlagen. Nach langem Überlegen, aber mit gutem Gewissen.
Weihnachten ist das Fest der Familie. Die Lindleys sind keine Familie für Jane. Obwohl John Lindley für Robert das ist, was einem Freund am nächsten kommt, auch wenn sie sich nach wie vor förmlich und beim Nachnamen ansprechen. Sie und Robert haben sogar ihren Sohn nach ihm benannt: John Lindley Fortune.
Sie verdanken ihm vieclass="underline" Roberts Stellung als Leiter der Treibhäuser und dieses Cottage. Die Chance, die sich für Robert mit dieser Reise durch China bietet. Die Möglichkeiten, die er vielleicht nach seiner Rückkehr haben wird und von denen auch so viel für seine kleine Familie abhängt.
Mr Lindley hat es sich nicht nehmen lassen, Weihnachten von Acton Green herüberzukommen, mit Päckchen für Jane und die Kinder. Und am letzten Tag des alten Jahres, Johns erstem Geburtstag, mit einem Geschenk für ihn, und um Jane alles Gute für das neue Jahr zu wünschen. Begleitet hat ihn seine älteste Tochter Sarah, die oft in Gesellschaft ihre Mutter vertritt, da Mrs Lindley leidend ist und man sie nur selten sieht.
Die Lindleys sind feine Leute. Nicht reich, sie wohnen ebenfalls nur zur Miete. Aber kultiviert und angesehen sind sie, das merkt man sofort. Selbst wenn man nicht weiß, dass John Lindley vor fünfundzwanzig Jahren der Assistent von Sir Joseph Banks gewesen war. Jener Sir Joseph Banks, der im vorangegangen Jahrhundert mit Captain James Cook die Welt umsegelt und von dieser Reise unfassbare Pflanzenschätze mitgebracht hatte. Der mit Alexander von Humboldt oder Carl von Linné alias Linnaeus, dem Papst der Botanik, Korrespondenz unterhielt, während er die Gärten von Kew mit exotischen Pflanzen füllte und der Naturkunde in England Gestalt gab.
Die Männer, die Sir Joseph Banks auf die Jagd nach Pflanzen schickte, hatten Magnolien und Hortensien nach England gebracht, Fuchsien, Strohblumen und die Tigerlilie.
Banks. Humboldt. Linnaeus.
Namen, die Robert immer mit Ehrfurcht im Mund führt.
Zu einer Welt gehören sie, die Robert ihr nahe gebracht hat und die Jane trotzdem immer noch fremd ist. Beinahe so fremd und fern wie China.
Von John Lindley mit seinem langen Bart und der Nickelbrille scheint immer der Duft von Blumen und frischer Erde auszugehen, nach Büchern und Tinte. Während Jane fürchtet, ihr haftet noch immer der Geruch nach Kuhfladen und Schweinemist an.
Dabei stammt John Lindley aus bescheidenen Verhältnissen, genau wie Robert; sein Vater hatte eine Baumschule für Obstbäume. Und trotzdem haben sie Personal in ihrem gemieteten Haus, mit Miss Drake sogar eine Gouvernante, die dazu noch die Illustrationen für die botanischen Veröffentlichungen Mr Lindleys anfertigt.
Sarah Lindley macht jedes Mal einen besonderen Eindruck auf Jane. Eine feine junge Lady ist sie mit ihren siebzehn Jahren. Selbstbewusst, gebildet, wortgewandt und zielstrebig. Auf ihren Kunststudien will sie eine berufliche Laufbahn aufbauen, teilt sich jetzt schon mit Miss Drake die Arbeit an den Illustrationen.
Jane betrachtet wieder Helen in ihrem Bettchen.
Die Brust wird ihr eng vor lauter Wünschen und Hoffnungen, die sie für ihr kleines Mädchen hat. Bei der Vorstellung, Helen könnte auch einmal so vor ihr sitzen wie Miss Lindley. Genauso belesen und klug und begabt, mit der Aussicht auf einen guten Beruf, eigenes Geld.
Sie denkt an den Sohn der Lindleys, der in London auf eine fortschrittliche Schule geht und nach dem Willen seines Vaters später Rechtswissenschaft studieren soll. Studieren. Rechtswissenschaft. Anwalt werden, vielleicht sogar Richter.
Jane wird schwindlig vor Glück, wenn sie sich das Gleiche für den kleinen Menschen auf ihrem Arm vorstellt.
Schwindlig vor Angst, sie könnte mit solch hochfliegenden Plänen das Schicksal herausfordern.
Als müsste sie sich dafür schämen, wenn sie sich nicht damit zufrieden gibt, dass ihre Kinder gesund sind und genug zu essen haben und nicht schon von Kindesbeinen an im Stall oder auf dem Feld mithelfen müssen.
Unwillkürlich drückt sie John, der eingeschlummert ist, fester an sich. Obwohl sie schon vor langer Zeit beschlossen hat, den Aberglauben ihrer alten Heimat hinter sich zu lassen.
In Momenten wie diesem ist sie Robert dankbar, dass er diese Chance bekommen und ergriffen hat. Vielleicht wird diese Reise es möglich machen, dass ihren Kindern viele Türen offen stehen, zumindest den Grundstock dafür legen.
Lange verharrt Jane noch so am Fenster, in ihren Träumen versunken.
Dann geht sie hinüber ins Schlafzimmer und legt sich mit John in ihrem Arm schlafen. Im Ehebett, in dem sie nach und nach von ihrer Seite zur Mitte hin gewandert ist und so Roberts verwaiste Hälfte mit ausfüllt.
21
Montag, 12. Februar 1844
Viel Regen, aber mild. Maximum: 65 Grad Fahrenheit. Minimum: sogar noch 54!
Allein schon um der Kälte Shanghais zu entfliehen, hat sich die weite Reise nach Canton (chin. Guangzhou) gelohnt. Mein kurzer Abstecher unterwegs hat mich insofern beruhigt, dass ich in Zhoushan/Chusan unterdessen nichts verpasse. Auch dort fährt der Wind noch schneidend über die kahlen Hügel, auf denen weit und breit kein Frühling in Sicht ist.
Die 800 Meilen zwischen Shanghai und Canton bedeuten nicht nur einen Wechsel in eine angenehmere Klimazone. Soweit ich das nach den zwei Tagen hier beurteilen kann, scheint mir Canton offener und freundlicher zu sein. Und das nicht nur, weil die Bewohner gerade ihre Stadt kisten- und körbeweise mit Blumen für das bevorstehende Neujahrsfest füllen.
Ich hoffe, es gelingt mir, morgen Zutritt zu einem der berühmten Gärten hier zu erhalten.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Wang warf die Hände in die Luft.
»hai-yah! Eine Frau, Fu-Chung! Eine Frau!«
Fortune fing das Grinsen des chinesischen Fährmanns auf, der sie flussaufwärts ruderte, und unterdrückte ein Seufzen.
So ging es, seitdem er Lian am Abend jenes Januartages in die Herberge mitgebracht hatte. Während er in der Kammer dort seine Siebensachen zusammenpackte und die Zeche beglich. Über die ganzen achthundert Meilen, die sie auf einem Lastkahn voller Baumwolle zurücklegten; er dankte dem Himmel, dass ein günstiger Wind sie wesentlich schneller in den Süden schleuste als im vergangenen Jahr, auf dem umgekehrten Weg von Shenhu nach Zhoushan hinauf. Sogar die sonst tückischen Schwarzen Wasser von Formosa hatten dieses Mal Milde walten lassen.