Выбрать главу

Ein Menschenleben ist in einigen Teilen dieses Landes ohnehin nicht viel wert, aber gerade diese Küstenregion hat keinen guten Ruf.

Die Einheimischen hier sind ein eigenständiger und gesetzesloser Menschenschlag.

Zuweilen komme ich mir vor wie in einem Nest von Dieben und Räubern.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Robert Fortune marschierte durch die Salzgärten: Wasserflächen wie Spiegelscherben, auf denen die Sonne blinkte und an deren Rändern sich das weiße Gold des Meeres häufte.

Mit langen Schritten durchmaß er die Felder dahinter, ein Flickwerk aus Süßkartoffeln und Erdnusspflanzen.

Dutzende, vielleicht Hunderte von Augenpaaren hatten sich an ihm festgesaugt. Jede Hacke, jeder Rechen und jeder Spaten verharrte bewegungslos. Kein Finger wurde mehr gerührt.

Nur ein kleiner Junge war in Bewegung und äffte ihn nach, indem er umherstelzte wie ein Graureiher.

So viele Gesichter, kaum voneinander zu unterscheiden, die ihm folgten wie Sonnenblumen dem Licht, jedes Mal, wenn er irgendwo auftauchte, seinen Beutel mit Gartengerät über der Schulter und die Botanisiertrommel quer umgehängt. Selbst wenn er nicht bis auf die Haut durchnässt war und Wasser vom Rand seines Huts tropfte wie heute, nachdem vor der Felsenküste gischtsprühende Wellen über die Nussschale von Boot hereingebrochen waren.

Neugier schwang in diesem stummen Starren mit. Argwohn. Manchmal fast so etwas wie Hass.

Die Erinnerung war noch zu frisch. An den Krieg um Opium und Tee, in dem Großbritannien mit seiner modernen Militärmaschinerie China in die Knie zwang.

China mochte eines der größten Reiche sein, das die Welt je gesehen hatte, ein Drittel der Menschheit beherbergen und mehr Reichtümer besitzen als alle anderen Länder. Doch Großbritannien war nun tatsächlich das Empire, in dem die Sonne niemals unterging. Dem weder die Natur noch andere Völker Grenzen zu setzen vermochten.

Eine ungeheure Schmach für das stolze Reich der Mitte.

fan-kwai war einer der ersten Begriffe, die Robert Fortune hier gelernt hatte.

Fremder Teufel.

Erst ein Stück bergan konnte er die Blicke abschütteln, hinter den kegelförmigen Grabhügeln, denen er überall an der Küste begegnete.

Eine Mahnung, wie zerbrechlich das Leben war.

Eine Erinnerung daran, wie nahe er selbst vier Wochen zuvor noch dem Tod gewesen war, auf dem Lastkahn zwischen Hongkong und Amoy. Obwohl seiner Physis nichts mehr anzumerken war; wie ein Phoenix war er aus dem Fieber hervorgegangen, nur ein paar Tage schwach auf den Beinen gewesen und danach schnell wieder zu Kräften gekommen.

Entstehen, Wachsen und Vergehen – das war der verlässliche Kreislauf der Natur. Die Ordnung der Welt.

In das knöcherne Gesicht des Todes geblickt zu haben, saß ihm trotzdem immer noch im Genick. Die Erfahrung, dass er nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen war.

Dieses kleine, einfache Leben, das bisher so unaufgeregt und stets aufgeräumt gewesen war. Ein gutes Leben war es; er konnte sich nicht beklagen. Besser als das seines Vaters und seines Großvaters.

Zum Leiter der Treibhäuser der Horticultural Society hatte er es gebracht, obwohl er nie eine andere Schule besucht hatte als die Pfarrschule von Edrom. Und trotz seiner Unbeholfenheit im Umgang mit dem anderen Geschlecht, dieser schönen und fremden Spezies, hatte er eine Frau gefunden, die ihn zum Ehemann und Vater machte.

Seit mittlerweile fünf Jahren flickte Jane seine Jacke, wenn er wieder einmal an Dornen hängen geblieben war, und seine Hemden; stopfte seine Socken und strickte von Zeit zu Zeit neue. Sie sorgte dafür, dass abends eine warme Mahlzeit auf ihn wartete und ein jede Woche frisch bezogenes Bett.

Jane hatte seine Behausung in ein Heim verwandelt. In ein behagliches Nest für seine eigene kleine Familie.

Genug Gründe, um dankbar zu sein. Zufrieden, ja geradezu glücklich. Und trotzdem hatte er seine Siebensachen gepackt, gegen Janes Willen. Aber letztlich mit ihrem Segen.

Keine Selbstverständlichkeit, das war ihm bewusst.

Eine fortschrittliche Ehe hatten sie gewollt – anders als ihre Eltern, ihre Großeltern und Janes Schwestern. Eine, in der es keinen Herrn gab, keine Herrin. In der jeder seinen Bereich hatte, der ihn ausfüllte, und den anderen daran teilhaben ließ.

Ein gemeinsames Leben wollten sie sich schaffen, in dem sie ihre Gedanken und Pläne teilten, ihre Freuden und Sorgen und zusammen Entscheidungen trafen. Ein Leben, das ihnen beiden behagte und in dem ihre Kinder zu glücklichen und selbstbestimmten Menschen heranwachsen konnten.

Er konnte Gott nicht genug danken, dass er ihm eine solche Frau geschenkt hatte. Die sogar verstand, dass er mehr von diesem Leben wollte.

Mehr Geld, um nicht jeden Shilling zweimal umdrehen zu müssen. Mehr Erfolg. Vielleicht sogar seine Spuren in der Welt der Botanik hinterlassen, mochten sie auch noch so schmal und nicht besonders tief sein.

Indem er die sagenhaften Blütenschätze Chinas fand.

Fortune betrachtete die filigranen Anemonen auf dem Grabhügel, die Blütenblätter reinweiß, der Kreis der Staubblätter golden wie eine kleine Sonne.

Anemone hupehensis.

Auf jedem Grabhügel, den er in China gesehen hatte, zitterten Anemonen im Wind.

In Hongkong. In Amoy und Namoa. Und jetzt hier, in der Bucht von Chimoo.

In England die Blume der Verlassenheit. Der einsamen Seelen.

Er hätte gern gewusst, welche Bedeutung sie hierzulande hatte.

Wang konnte er nicht fragen. Dessen Englisch war zwar ordentlich, ging aber nicht über das hinaus, was man sehen und greifen, zählen und verhandeln konnte. Während er selbst feststellen musste, dass das rudimentäre Wörterbuch, mit dem ihn die Society ausgestattet hatte, fehlerhaft und kaum brauchbar war. Zumal die Dinge in verschiedenen Landstrichen unterschiedliche Namen trugen.

Außerdem sprach Wang nicht mehr mit ihm. Gekränkt war er, immer noch. Nachdem die Pflanzen, um die Fortune ihn geschickt hatte, keine Gnade in dessen Augen gefunden hatten, waren sie doch welk und bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht gewesen. Weil er Wangs Ausrede, weiter die Hügel hinauf sei es zu gefährlich, beiseite wischte. Sich kurzerhand ein Boot mietete, um von Amoy nach Chimoo überzusetzen und dort selbst auf die Suche zu gehen.

Jeder Schritt ein unausgesprochener Vorwurf und eine Verwünschung, stapfte Wang hinter ihm her. Wortlos. Zum ersten Mal, seitdem Wang ihn begleitete, als Fremdenführer und rechte Hand, Dolmetscher und Leibwächter.

Zu dem Kauderwelsch aus Englisch und Chinesisch, das Wang sonst pausenlos über ihn ergoss, allerdings eine erholsame und mehr als willkommene Abwechslung.

Während er in seinen festen Stiefeln bergan stieg, der Pagode auf dem höchsten Punkt der Hügel entgegen, vergaß Fortune beinahe, dass Wang hinter ihm ging.

Auf eigene Faust in der Natur umherzustreifen, behagte ihm. Weitaus mehr, als im Schlepptau eines Landsmanns eine Singsong-Veranstaltung zu besuchen oder die Gärten eines Mandarins zu besichtigen.

Die Engländer in Hongkong, in Namoa und Amoy waren Händler, Verwaltungsbeamte, Seeleute und Offiziere. Eine ruppige Gattung von Männern, die viel tranken und rauchten, auch einer Opiumpfeife nicht abgeneigt waren und sich mit handfesteren Dingen als Zierpflanzen beschäftigten.

Als Gärtner auf Forschungsreise war er unter seinen eigenen Landsleuten genauso ein Exot wie in den Augen der Chinesen.

Das Begehren, das eine Orchidee oder eine Päonie bei den Lords und Ladys zu Hause weckte, war hier keine gültige Währung.

Er marschierte auf das Grün zu, das sich in den Felsspalten festklammerte. Möglicherweise eine Art von Gesneriaceae?

Die Aussicht darauf, hier in Chimoo endlich einen der legendären Pflanzenschätze zu heben, beschleunigte seine Schritte, verlieh ihm Flügel.

So gründlich er die Insel von Hongkong auch abgegrast hatte, von den rauen Bergen bis hin zum blauen Wasser der Bucht, es war nichts darunter gewesen, was man in England nicht schon kannte.