Gedanken, die nicht zu der Vorstellung passten, der allmächtige Mensch wäre die alleinige Triebfeder für jede Veränderung, jeden Fortschritt. Auch in der Natur, in der alles in absoluter Vollkommenheit erschaffen worden und seither unverändert geblieben war, Unterschiede und Gemeinsamkeiten allein dem Zufall zugeschrieben wurden.
Er seufzte.
»Ich bin kein Priester. Kein Philosoph. Noch nicht einmal ein Gelehrter, der sich mit dem Wesen der Dinge beschäftigt. Nur ein einfacher Gärtner. Und ich glaube an die Ordnung. An die Muster, die sichtbar werden, wenn wir alles, was uns in der Natur begegnet, in einem System ordnen. Die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten, die sich dann erkennen lassen, helfen uns vielleicht, manches zu verstehen. Über die Pflanzen, die immer und überall da sind und doch so wenige Spuren hinterlassen.«
Er senkte den Kopf.
»Ich schätze, das ist meine Art, zu glauben. An eine göttliche Ordnung. An einen Plan des Schöpfers für diese Welt.«
»Also glaubst du an Schicksal?«
»Schicksal? Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich glaube daran, dass nichts in der Natur zufällig ist. In der Natur hat alles seinen Sinn. Immer. Daran glaube ich felsenfest.«
Gedankenverloren wühlte er mit den Händen in der Erde, zerkrümelte zwischen den Fingern Erdklümpchen, klaubte trockene Ästchen und Steine heraus.
»Wir glauben, dass zu Beginn Himmel und Erde eins waren«, hörte er Lian leise sagen. »Alles war ein schwarzes Chaos, in der Form eines riesigen Eis. Pangu, der Riese, schlief darin seinen ewigen Schlaf, und als er erwachte, glaubte er in diesem Ei zu ersticken. Er reckte sich und zerbrach es.«
Fortune unterbrach sein Tun, um ihr zuzuhören. Um die Worte, die er nicht kannte, aus Lians Mimik zu entschlüsseln, aus ihren Gesten.
Vom Strudel der Elemente erzählte sie, aus dem alles Lichte, Helle, nach oben stieg und den Himmel formte, während alles Schwere, Dunkle, nach unten sank und die Erde schuf. Wie Pangu den Himmel stützte und dabei wuchs, der Himmel sich ausdehnte, höher und höher, die Erde sich verdichtete, tiefer und tiefer. Als Pangus Kräfte erschöpft waren, starb er. Sein Atem formte sich zu Wind und Wolken, seine Stimme zu Donnerschlägen. Sein linkes Auge verwandelte sich in die Sonne, sein rechtes in den Mond. Aus Armen und Beinen wurden die Himmelsrichtungen und die heiligen Berge, sein Blut und seine Tränen zu Bächen und Flüssen, aus den Haaren seines Körpers wuchsen die Bäume und alle andere Pflanzen.
Fortune starrte vor sich hin, Lians Stimme noch in seinem Kopf, während sie für seine Ohren bereits verklungen war.
Zähne und Knochen eines märchenhaften Riesen als Metall und Fels der Erde. Sein Mark als Perlen und Jade, Schweiß als Regen, Haar und Bart als Sterne – diese Vorstellung einer Natur, die in ihrer Gesamtheit einem ganzen Organismus entsprach, gefiel ihm. Es entsprach seinem eigenen Verständnis der Welt, seinem Sinn für Ordnung.
Ja, es gefiel ihm.
Er nickte vor sich hin, wie zustimmend, und beugte sich dann wieder über sein Wardian Case.
25
Ich sah ihm zu, wie er weiter in dem seltsamen Behälter aus Glas wühlte.
Viel zu zerbrechlich kam dieser mir vor, um im Bauch eines Schiffes unbeschadet eine solch weite Reise zu überstehen.
Unwillkürlich lehnte ich mich vor und besah mir dieses Glasgefäß genauer.
»Das ist ein Wardian Case«, erklärte Fortune. »Ein Dr. Ward in London ist zufällig darauf gekommen. Ein Arzt, der Naturkunde als Steckenpferd betreibt. Er wollte einen Schmetterling zum Schlüpfen bringen und gab die Puppe mit Laubmulch in ein Glas, das er verschloss. Der Schmetterling ist leider nicht geschlüpft – dafür keimte es im Glas. Verschiedene Gräser und erstaunlicherweise sogar einer der empfindlichen Farne wuchsen darin. Und das bemerkenswert prächtig.«
Ein Steckling nach dem anderen gesellte sich zu der Narzisse, von Fortune sorgsam in die Erde gebettet.
»Wir verstehen noch nicht ganz, was im Innern eines solchen Glases vor sich geht. Sicher ist nur, dass das Wasser den Tag über verdunstet, sich abends an den Wänden sammelt und dann wieder in der Erde versickert. Wir nehmen an, dass die Pflanzen innerhalb des Glases selbst beständig die Luft darin erneuern. Auch wenn wir den genauen Mechanismus noch nicht kennen.«
Er unterbrach seine Arbeit und legte die Hände auf den Rand des Behälters.
»Die größte Schwierigkeit dabei, Pflanzen aus aller Welt zu beschaffen, liegt darin, sie während der langen Reise am Leben zu halten. Unabhängig von Wind und Wetter, von Temperaturschwankungen und Luftfeuchtigkeit. Geschützt vor Salzwasser und vor hungrigen Ratten und Mäusen. Mit diesen Wardian Cases wagen wir ein Experiment: Pflanzen in ihrer eigenen kleinen Umwelt zu verschiffen. Wie in … in einer Blase. Sie müssen nur unterwegs genug Licht bekommen. Und der Kasten muss heil und luftdicht verschlossen bleiben.«
Nachdenklich spähte er in den Glaskasten.
»Wenn uns das jetzt gelingt«, fügte er leise hinzu, »wenn auch nur ein Teil der Pflanzen in solchen Cases wohlbehalten ankommt … Das würde ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Es wäre ein Meilenstein in der botanischen Forschung.«
Er verstummte und warf mir einen verlegenen Blick zu, bevor er sich wieder seinen Pflänzchen widmete. Wie entschuldigend, dass er so lange und viel geredet hatte.
Ich hatte nicht jedes einzelne Wort verstanden. Aber genug, um das Wesentliche zu erfassen.
Meine Fingerspitzen lagen auf dem Glas. Ich konnte mir vorstellen, wie es die Pflanzen auf ihrer weiten Reise vor allem Unbill beschützte. Dafür sorgte, dass es ihnen unterwegs an nichts mangelte. Auf eine seltsame Art taten sie mir trotzdem leid, auf diese Weise eingeschlossen zu sein. Die Sonne nur durch das Glas hindurch zu spüren. Ohne den Wind fühlen zu können und den Regen.
»Weißt du«, sagte Fortune nach einer Weile, »zu Hause habe ich gedacht: Wir halten unsere Frauen oft für so empfindliche Pflänzchen, dass wir sie in ein solches Glashaus setzen.«
Seine Stirn legte sich dabei in Falten, fast fragend. Als wunderte er sich selbst über diesen Gedanken.
Vor meinem inneren Auge entrollte sich die Form, in die mein Leben hätte gepresst werden sollen, erschreckend klein und eng. Begrenzt von den Mauern eines Hauses. Der Fläche eines Gärtchens. Der Ausdehnung eines Reisfeldes.
Eine Form, die sich nicht verändern ließ. Nur ein wenig dehnen. Durch meine äußere Erscheinung. Meine Tugendhaftigkeit. Die Fähigkeit, Söhne zu gebären.
Ich tat einen tiefen Atemzug. Wie um mich zu versichern, dass diese Last nicht mehr auf meinen Schultern lag. Ich diese Form wirklich und unwiderruflich gesprengt hatte.
»Bei uns ist es genauso«, flüsterte ich.
Fortune sah mich an, ein Zucken um den Mund, als ob er etwas erwidern wollte.
Dann senkte er jedoch den Kopf und grub schweigend weiter mit den Fingern in der Erde.
Es gefiel mir, wie sorgsam er die empfindlichen Pflanzen behandelte. Wie behutsam er sie anfasste und in seinen großen Händen barg, bevor er sie in die Erde bettete. Gut aufgehoben schienen sie, in diesen Händen. Ohne befürchten zu müssen, dass er ihnen unabsichtlich Schaden zufügte, weil er zu fest zupackte. Ohne dass sie ihm entglitten und zu Boden fielen, weil er sie zu zaghaft hielt. Er hatte ein Gefühl für ihre Lebendigkeit.
»Wolltest du immer nur das sein – ein … ein Mann des Gartens?«
Er nickte.
»Ich wollte schon immer mit Pflanzen arbeiten. Mit Blumen. Die Wunder der Pflanzenwelt haben nie aufgehört, mich zu faszinieren. Ich will immer noch mehr darüber lernen. Vielleicht mein eigenes Scherflein zum Wissen über diese Welt beitragen. Indem ich etwas Neues darin entdecke. Etwas noch Unbekanntes aufspüre. Zumindest wünsche ich mir das.«
Über seine Arbeit hinweg warf er mir einen schnellen Blick zu.
»Wolltest du schon immer ein Schwertmädchen sein?«