Seinen unvermutet leichtherzigen Tonfall wusste ich nicht einzuordnen; nicht, ob die Frage scherzhaft oder ernst gemeint war.
Ich dachte daran, wie viel Aufhebens er in Shanghai darum gemacht hatte, als es für die letzten zwei Nächte in der Herberge kein freies Zimmer mehr gegeben hatte, um mich darin unterzubringen.
Dabei hatte ich ihm doch versichert, dass es mir nichts ausmachte, auf dem Boden zu schlafen. Ebenso wenig, wie mir danach auf dem Schiff den winzigen Raum mit den beiden Männern zu teilen.
Obwohl Wang des Nachts grunzte wie ein Wildschwein.
Trotzdem genoss ich es, hier in Canton ein Kämmerchen für mich allein zu haben. So hoch oben, dass ich durch das Fenster aufs Dach klettern konnte. In der Stunde des Tigers, wenn es noch dunkel war, gehörten die Dächer der Stadt mir und meinem Schwert. Eingehüllt in Nacht und Stille, tanzte ich mit meiner Klinge unter Wolken und Sternen. Bis die Stunde des Hasen sich ihrem Ende zuneigte und die Stadt im ersten zarten Grau des Tages erwachte.
Ich war dankbar für diese Stunden der Nacht, ganz für mich allein.
»Ich wollte immer nur frei sein«, sagte ich leise.
Fortune unterbrach seine Tätigkeit.
»Frei«, wiederholte er murmelnd.
Verwundert wirkte er, wie er mit gerunzelter Stirn in die Ferne blickte. Als wäre Freiheit etwas ganz und gar Selbstverständliches. Oder etwas, über das er erst genauer nachdenken musste, weil es ihm fremd war.
Als er sich wieder in seine Arbeit vertiefte, verliehen seine zusammengezogenen Brauen, die Art, wie er seine Augen zusammenkniff, ihm etwas Grüblerisches, Angestrengtes.
Ich fragte mich, ob nicht die meisten Menschen in einem Haus aus Glas saßen. Mal größer und weitläufiger, mal beengter, Frauen wie Männer.
Ob vielleicht auch Fortune in einem lebte.
Und was nötig sein mochte, um es zu zerschmettern.
Hastig zog ich meine Hand zurück. Als hätte ich mich am Glas geschnitten.
Canton, Herberge »Pflaumenblüte«.
Freitag, der 16. Februar 1844, neun Uhr abends
Sehr verehrter Mr Lindley,
nach äußerst ergiebigen Besuchen der hiesigen Gärten ist es mir gelungen, noch einen Platz für ein Wardian Case auf einem Schiff zu sichern, das morgen in aller Frühe in Richtung London ablegt. Eines der letzten, bevor ab übermorgen die Arbeit im Hafen für drei Tage weitestgehend ruht – wie wohl generell alles hier aufgrund des Neujahrsfestes geschlossen sein wird.
Und wie ich die Chinesen im Lauf der letzten Monate hier kennengelernt habe, wird danach im Hafen erst einmal heilloses Durcheinander herrschen.
In dieser Sendung an die Horticultural Society sind enthalten:
· Azalea indica – diverse
· Chrysanthemum minimum
· Chrysanthemum indicium – diverse
· Citrus medica var. sarcodactylis (vulgo »Buddhas Hand« oder »Fingerzitrone«
· Citrus reticulata (vulgo »Mandarinorange«, hierzulande »Juzi« genannt oder »Gam«)
· Enkianthus quinqueflorus (vulgo »Neujahrsblume«)
· Narcissus tazetta subsp. (?) sinensis
· Paeonia suffruticosa – diverse
Ich hoffe, die Pflanzen kommen allesamt wohlbehalten an und können im Garten von Chiswick Wurzeln schlagen und gedeihen.
Auch zur Methode der Züchtung von Zwergenbäumen konnte ich Näheres in Erfahrung bringen. Die Vorgehensweise dabei ist tatsächlich eine sehr simple und beruht auf einem der grundlegenden Prinzipien der pflanzlichen Physiologie.
Wie wir alle wissen, verhindert alles, was die freie Zirkulation des Pflanzensaftes hemmt, bis zu einem gewissen Ausmaß auch die Ausbildung von Holz und Laub.
Dies kann erreicht werden durch Beschneiden und Veredelung, Begrenzung des Wurzelwachstums, Mangel an Wasser, Verformung der Äste und wohl alles in allem hundert anderen Verfahren mehr, die nach demselben Prinzip vorgehen. Eine Technik, die mehrere Jahre in Anspruch nimmt und die die Chinesen aufs Vollkommenste beherrschen, und damit die Natur dieser besonderen und hierzulande weit verbreiteten Vorliebe unterwerfen.
Das Ergebnis dieser Prozedur wird pun-tsai genannt, »Tablett-Pflanzung«, oder auch pen-ching, »Tablett-Landschaft«. Wobei pun oder pen (auch pan) das Becken oder die flache Schüssel bezeichnet, in dem die Bäumchen wurzeln, oftmals in einer kleinen gestalteten Landschaftsszenerie aus Moosen, Steinen etc. eingebettet.
Einen ausführlicheren Bericht dazu werde ich nach meiner Rückkehr vorlegen.
Von Canton aus werde ich spätestens im März nach Chusan aufbrechen. In der Hoffnung, jetzt im Frühling das vorzufinden, was mich der vergangene Herbst dort an Pflanzenreichtum hat erahnen lassen.
Hochachtungsvoll,
Robert Fortune
Canton, Herberge »Pflaumenblüte«.
Freitag, der 16. Februar 1844, zehn Uhr abends
Liebe Jane –
ich schreibe Dir in aller Eile: Ich muss heute Abend noch in den Hafen, damit sich gleich morgen früh meine Pflanzen für die Society auf die Reise machen können, bevor die Stadt im Trubel des Neujahrsfestes versinkt.
Immerhin verspricht dieses ein besonderes Ereignis zu werden: Die ganze Stadt ist mit Blumen und Fahnen geschmückt, die Menschen sind bester Laune, und es soll ein großes Feuerwerk geben.
Für Dich gebe ich eine Kiste mit auf – ein paar Stücke chinesischen Porzellans, die ich vorgestern in einem Laden entdeckte und sehr ansprechend fand.
Ich hoffe, sie kommen unbeschadet bei Dir an und gefallen Dir.
Küss die Kinder von mir –
Robert
26
Fortune hatte es sich nicht nehmen lassen, sich im Morgengrauen noch einmal in den Hafen zu begeben.
Mit eigenen Augen wollte er sich vergewissern, dass das Wardian Case mitsamt seiner kostbaren Fracht auf dem Oberdeck verstaut worden war und dort genug Licht erhalten würde. So gut gesichert, dass es eine reelle Chance hatte, auch rauen Seegang und Stürme zu überstehen.
Mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit sah er vom Kai aus zu, wie das Schiff mit geblähten Segeln ablegte und aus dem Hafen hinaussteuerte. Auf die Meerenge der Bocca Tigris zu, den Tigerschlund, bevor es zwischen Hongkong auf der einen Seite und Macao auf der anderen hindurch Kurs auf das offene Meer nehmen würde.
»Jetzt feiern, ja? Gut essen! Trinken! Hat Wang verdient!«
Fortune zuckte zusammen, als Wang ihm auf den Rücken schlug.
»Und Fu-Chung auch!«
Unterwegs in den Gassen beäugte Wang jedoch abschätzig die Auslagen der Fleischer und der Fischhändler, die die Luft mit dem metallischen Geruch von Blut und Seetang sättigten. Kaum gemildert vom erdigen, grünen Duft des Gemüses, der süßen Frische von Obst.
»hng. Cantonesen wirklich alles essen, was schwimmt, fliegt oder vier Beine hat. Nur keine Boote, Papierdrachen und Tische.«
Widerstrebend musste Fortune ihm recht geben.
Was hier an ganzen Tieren oder Teilen davon auf windschiefen Klapptischen ausgebreitet lag, Kisten und Körbe füllte oder an Schnüren von der Decke baumelte, entzog sich oft einer weiteren zoologischen Bestimmung.
Manchmal wollte er es auch lieber gar nicht genauer wissen. Wie beispielsweise bei den sorgsam aufgestapelten rosigen Fleischtuben mit paarweisen Öffnungen, die sich erst auf den dritten Blick als abgetrennte Schweineschnauzen entpuppten.
Fortune richtete seine Aufmerksamkeit lieber auf die Pyramiden von Orangen, Zuckerrohr, Feigen, Mangos und Pomelos und von hellgrünen Citrus maxima. Auf Körbe von Litchi sinensis (Lizhi? Liechee? Lychee?), aus der Familie der Seifenbaumgewächse, und ihrer Verwandten, Dimocarpus longan.