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Wang hob beide Hände mit gespreizten Fingern.

Fortune ließ den Atem ausströmen, den er unwillkürlich angehalten hatte.

Im März die blühenden Hügel von Zhoushan.

Im April Teefelder irgendwo hinter Ningbo.

Es sah ganz danach aus, als würde sich das lange Warten auf den Frühling gelohnt haben.

Das Neujahrsfest kam wie ein Rausch über Canton.

Festlich und farbenfroh gekleidet, strömten die Menschen in Scharen durch die Straßen und riefen nach allen Seiten Neujahrsglückwünsche – gung hei faat choi und juk neih houwahn –, die auch gwai-los wie Fortune mit einschlossen. Rufe, die sich mit scheppernder Musik und dem Krachen und Knattern von Böllern zu einem ohrenbetäubenden Lärm aufpeitschten.

Die Stadt quoll über vor Blumen und Seidenbannern, und aus den Flüssen wurden schwimmende Gärten, die Boote darauf schwer von ihrer Blütenlast. Vergnügungsfahrten waren es, wie zu Hause in Richmond oder Hampton Court. Sogar die sonst unsichtbaren Frauen der Stadt waren zu sehen, in feinster, verschwenderisch gemusterter und bestickter Seide und eleganter Haltung, ihre Gesichter wie gemalte Kunstwerke. Empfindlichen und kapriziösen Treibhauspflanzen gleich, die nur einmal im Jahr blühten, drei Tage und drei Nächte lang.

Nur mit halbem Ohr hörte Fortune zu, wie ein aufgekratzter Wang ihm erklärte, warum dieses Jahr des Holzdrachen ein solch besonderes, Glück verheißendes war.

Er befand sich in einem anderen Rausch.

Während sich unter Donnerschlägen glitzernde Schlangen über den Nachthimmel wanden, schillernde Drachen Feuer spien und sich bunte Chrysanthemen entfalteten, wiederholte er aus dem Gedächtnis die Namen der Teesorten, die Lian in jenem Laden für ihn übersetzt hatte.

Goldblatt. Jadeblume.

Jadeblatt des Ewigen Frühlings.

Drache in den Wolken. Feiner Silberschössling.

Lerchenzunge. Spiegelfelsen.

Fels der drei Mönche.

Namen wie aus einer anderen, einer magischen Welt.

Trunken war er von der Vorstellung, dem Tee bald so nahe zu sein. Vielleicht der erste Mann aus dem Westen zu sein, der sah, wo Tee wuchs. Wie er angebaut und wie er verarbeitet wurde.

Die »fließende Jade«. Das grüne Gold.

Das kostbarste und begehrteste Gut Chinas. Auf der ganzen Welt, aber besonders in England; denn nur wer Tee trank, konnte sich wie ein richtiger Engländer fühlen.

Dafür war England sogar in den Krieg gezogen.

Die Straße der Kamelien

(Camellia sinensis)

Kamelie. Unübertroffene Weiblichkeit. Vollkommene Schönheit.

Flora Greensleeves, The Language of Flowers, London, 1837

… zudem ist dies das Land des Tees. Ein Getränk, das in den Augen der Engländer allein schon genügt, ein jegliches Land unsterblich zu machen, böte es auch sonst nichts anderes.

Robert Fortune

Insel von Zhoushan (Chusan), Tinghae, Herberge »Königliche Orchidee”.

Donnerstag, der 14. März 1844, neun Uhr abends

Liebe Jane,

ich wünschte, Du könntest das hier sehen!

Als ich im Januar zuletzt hier vorbeigeschaut habe, war alles kahl, in tiefstem Winterschlaf. Und jetzt, keine neun Wochen später, ist diese Insel ein einziges Meer aus Blüten und frischem Grün.

Wesentlich früher, als es bei uns der Fall ist – und auch üppiger und kräftiger, wie mir scheint.

Es muss Balsam für jede Menschenseele sein, hier über die Insel zu wandern. Den Reichtum an Formen und Farben zu bestaunen, an diesem Ort, der mir zurzeit nichts Geringeres als das Paradies ist.

Ja, ich wünschte, Du könntest das hier sehen. Mit mir über die Insel streifen. Den Kindern dieses Wunder zeigen.

Ich hoffe, bei Euch hat der Frühling ebenfalls schon Einzug gehalten.

Robert

Die Stimmen der Vögel fluten den Garten: tschilpende und trillernde Kaskaden aus den wieder grünen Sträuchern, den blühenden Bäumen.

In ihrem alten braunen Rock kniet Jane auf der Erde und verzieht die Keimlinge im Beet. Helen hat schon damit begonnen, das Unkraut zu jäten, das unter Frühlingsregen und Märzsonne überall hervorgeschossen kommt. Geschickt stellt sie sich dabei an, reißt die Pflanzen mit Stumpf und Stiel heraus und fragt lieber noch einmal nach, wenn sie unsicher ist.

Trotzdem ist es für sie ein Spiel, das genug Raum lässt, Blätter und Wurzelgeflecht genau zu betrachten. Genug Zeit, um Regenwürmer zu untersuchen, Käfer und Spinnen. Nach den ersten Schmetterlingen Ausschau zu halten, nach Bienen und Hummeln.

Genau wie es sein sollte, denkt Jane.

Einmal mehr wirft sie rasch einen Blick zu John. Immer in der Angst, er könnte unbemerkt durch die Hecken gekrochen und zum Bach hinuntergelaufen sein, in weniger als ein paar Sekunden; er ist so schnell auf seinen kurzen Beinen.

Zum wiederholten Mal atmet sie auf, dass er nach wie vor brav auf der Decke sitzt, die sie im Gras ausgebreitet hat. Vollkommen versunken ist er in seine eigene kleine Welt, die er sich aus Holzklötzen, Ästen und Steinen gebaut hat und von der er sich selbst erzählt. In seinen eigenen geheimen Worten, die er mehr und mehr nach ihrer und Helens Sprache formt.

Jane weiß nicht, wie ihre Mutter das früher geschafft hat, mit drei kleinen Mädchen rasch nacheinander. Wie es andere Frauen geschafft haben, die sie in Swinton kannte, mit fünf oder mehr Kindern, während sie weiter von früh bis spät als Wäscherin oder als Magd auf dem Anwesen arbeiteten, um die Familie satt zu bekommen.

Ihr Blick wandert über den Zaun, der über den Winter stark gelitten hat und gestrichen werden müsste. Weit, weit hinaus streift Jane mit ihren Gedanken, über die Wiesen und Felder und die alten Eichenbäume.

 

 

 

Der gesunde Menschenverstand sagt ihr, dass die Chinesen vermutlich nicht viel anders leben als die Leute hierzulande. Genauso hart arbeiten müssen sie, um ihre Familien zu ernähren, wie die Leute hier in Chiswick, in Swinton, Edrom, London oder Edinburgh. Die Frauen bringen genauso Kinder zur Welt und ziehen sie groß und bestellen vielleicht ein Gärtchen wie Jane.

Wie es die Menschen wohl zu allen Zeiten, an allen Orten getan haben. Ist das doch die Wurzel des Menschseins, mag sie auch über dem Erdboden jeweils unterschiedlich wachsen und verschieden blühen.

Allerdings vermag Jane sich nicht auszumalen, was in diesen chinesischen Gärten wächst. Was chinesische Mütter ihren Kindern zu essen geben. Worin sie sie kleiden, welche Spiele sie mit ihnen spielen.

Einmal mehr versucht sie sich vorzustellen, wie Robert seine Tage verbringt. Was er in China sieht, hört, erlebt. Wie es ist, dort zu sein, am anderen Ende der Welt.

Es gelingt ihr nicht.

China ist für sie die Pagode in Kew Gardens, die sie an einen Bleistift erinnert und der Tee in ihrer Tasse. Fremdartige Gesichter, mehr Märchenfiguren als realistische Porträts, eingefroren in rätselhaften Szenen, die in den Häusern reicher Leute hier Vasen und Schüsseln zieren.

Exotische Vögel und Blumen auf Tellern und Fächern, traumgleich in Pastell oder in unnatürlich leuchtenden Farben. Blaue Schnörkel auf weißem Porzellan wie eine Melange aus Wolken und Himmel.

Statisch ist ihr Bild von China, flüchtig und unwirklich.

China bleibt für sie ein verwaschenes Aquarell aus einem Märchenbuch. Das für Robert gerade jeden Tag fühlbare, greifbare Realität ist, seitdem er in dessen Seiten hineinspaziert ist, um diese fantastischen Blumen zu finden und sie später in englischem Boden Wirklichkeit werden zu lassen.