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Helens kieksender Ausruf reißt sie aus ihren Gedanken.

Über den Zitronenfalter auf der ausgestreckten Hand hinweg strahlt Helen sie an, eine überwältigende, allumfassende Seligkeit auf dem Gesicht und mit leuchtenden Augen.

John kommt auf seine Schwester zugerannt. Fast zu schnell für seine noch nicht ganz sicheren Beinchen, muss er sich mit rudernden Armen ausbalancieren.

Ihre bedauernden Laute, als der Falter sich aufschwingt, verfliegen sogleich. Die Freude überwiegt, mit der die beiden Kinder mit Augen und Fingern dem Schmetterlingsflug folgen, durch den Garten hüpfen, ganz im Glück, ganz im Augenblick.

 

 

 

Ein Jahr ist es jetzt her, dass Robert nach China aufgebrochen ist. Ein Jahr, das erstaunlich schnell vergangen ist und doch viel zu langsam.

So viele Momente mit den Kindern sind Robert entgangen. Wie Helen mal in kaum wahrnehmbaren Übergängen, mal in Wachstumssprüngen zu dem kleinen Mädchen geworden ist, das jeden Tag tausend Dinge im Kopf hat, von denen sie erzählt, und genauso viele Fragen stellt. So viele Meilensteine hat er verpasst. Johns erster Zahn. Sein erster Geburtstag, die ersten wackeligen Schritte, die ersten Worte.

Keine noch so prächtige Orchidee, kein Geld der Welt kann ihm das zurückbringen.

27

Dienstag, 19. März 1844

Die zweite Woche zurück in Zhoushan.

Frühlingswetter – Maximum: 64 Grad Fahrenheit, einmal sogar 68! Meist sonnig, allenfalls leicht bewölkt und überwiegend trocken. Wenn es regnet, dann kräftig, jedoch meist abends oder in der Nacht, bei einem Minimum von 42 Grad Fahrenheit, selten bis auf 38 Grad fallend.

Oft habe ich die schönen Azaleen bewundert, die anlässlich von Festivitäten nach Chiswick gebracht werden. Als individuelle Specimina übertreffen diese in den allermeisten Fällen die Azaleen, die auf den Hügeln hier wachsen und blühen. Dessen ungeachtet gibt es nichts Prachtvolleres und Beeindruckenderes als die in Azaleen gekleideten Berge hier. Auf allen Seiten, wohin das Auge auch schaut, so weit der Blick reicht: Massen dieser Blüten von überwältigender Leuchtkraft und alles überstrahlender Schönheit.

Buchstäblich atemberaubend!

Ich komme kaum nach damit, meine Specimina zu konservieren und Listen darüber zu führen, was bereits blüht oder es in Bälde tun wird: Kirschbäume und Spiersträucher, Geißblatt, wilde Rosen und Kamelien, Clematis und eine Art von Torenia in tiefem Blauviolett.

Es gibt keinen Zweifel mehr: All die Berichte, die China als ein blühendes, blumenreiches Land schildern, sind keine Legende. Sie sind wahr – ganz besonders hier in Zhoushan.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Zhoushan im Frühling war für Fortune nichts Geringeres als der Himmel.

Ein blühender, farbenfroher, duftender Himmel, in dem Blütenstaub das Licht vergoldete, Insekten umhersurrten und Schmetterlinge durch die Luft flirrten, kupfern, schwefelgelb, irisierend blau.

Wenn er spät nachts unter herzhaftem Gähnen endlich die Feder beiseitelegte und seine beständig länger werdenden Listen und botanischen Beschreibungen bündelte, bevor er in der Kammer der Herberge das Licht aus Pflanzentalg löschte, konnte er kaum den Morgen erwarten.

Wie in den Fußstapfen Adams kam er sich vor, nur dass er statt der Tiere die Pflanzen vor Augen hatte, die der Herr in seinem unerschöpflichen Einfallsreichtum geschaffen hatte, und ihnen Namen geben durfte. So musste es gewesen sein, zu Anbeginn der Welt, am Anfang aller Dinge.

Wären die Nächte nicht noch empfindlich kühl gewesen und oft von kräftigen Schauern begleitet, hätte Fortune sie draußen verbracht, in der Natur. Irgendwo auf den Hügeln der Insel, zwischen all diesen Blüten in ihrem Nachtschlummer.

Fortune lächelte bei diesem Gedanken in sich hinein, während er auf einer sonnengefleckten Lichtung die Blüten der Weigelien vermaß: nicht einmal daumenlange Glöckchen in Rosa oder Pink, die in Myriaden von Bündeln aus den Sträuchern hervorsprangen.

Weigela florida. Die reichblühende Weigelie.

Ein spröder Name, der dieser hübschen Pflanze keineswegs gerecht wurde, konnte sie sich doch durchaus mit den Azaleen dieser Gegend messen.

Und doch war sie nichts im Vergleich zu der Wisteria, auf die er am Tag zuvor gestoßen war, tief im gerade erst grünenden Wald. Üppige Kaskaden, die wie lavendelblauer Regen von den Ästen herabtroffen. Eine sanfte Farbe, die dennoch so intensiv war, dass sie lebendig schien.

Mit den Augen konnte man sie trinken, diese Farbe.

Wisteria sinensis, chinesische Wisteria, hatte er sie getauft.

zi teng, ergänzte er sogleich in Gedanken ihren chinesischen Namen. Blaue Rebe.

Berauscht war er davon, immer noch. Von diesem Duft, süß und schwer, süffiger durch den Geruch von regennassem Waldboden, feuchtem Holz und frischem Grün. Weiche Knie hatte ihm dieser Duft gemacht.

Ein fast unwirkliches Erlebnis war es gewesen, magisch und wie verwunschen. Ein Zauber, den er mitsamt der Stecklinge und Absenker aus dem Wald mitgenommen hatte. Und der immer noch nachwirkte. In einer Leichtigkeit des Herzens. Einem Gefühl der Seligkeit, das fast schon Glück war.

Wenn er morgens in aller Frühe von Tinghae aus aufbrach, trottete Wang murrend hinter ihm her. Zuweilen musste dieser sich zu einem Spurt aufraffen, um seinen Herrn nicht aus den Augen zu verlieren, der mit federnden Schritten vorausmarschierte. Und sobald sich eine Gelegenheit ergab, streckte sich Wang irgendwo aus, um den versäumten Schlaf an Ort und Stelle nachzuholen.

So wie jetzt, in einiger Entfernung von Fortune, auf einem Polster aus Moos und in einem Klecks Sonnenlicht. Hier im Wald bekam Wangs Schnarchen, mit dem sich Fortune allmählich arrangiert hatte, eine andere Qualität. Leiser war es, behutsamer und fast träumerisch, im Einklang mit den Tönen des Waldes.

Fortunes Blick wanderte weiter. Zu Lian, die sich ganz in seiner Nähe hielt.

Längst hatte er sich daran gewöhnt, in ihr eine aufmerksame Zuschauerin zu haben, wenn er botanisierte und sich Notizen machte. Er mochte ihr Gespür dafür, wann es Zeit war, zu reden oder zu schweigen. Vielleicht hatten sie auch einfach den gleichen Rhythmus.

Ihr Schweigen war nie befangen. Nie abweisend oder gar feindselig. Sondern lebendig, offen und wach. Auf eine feinfühlige Art schwieg sie, die ihm behagte.

Genauso schätzte er die Tage, die Stunden, an denen er von Lian Chinesisch lernte, während seine Hände sich mit Laub und Gehölz beschäftigten. Eine Sprache, die trotz ihrer klaren Logik tückisch war, weil ein und derselbe Laut grundverschiedene Bedeutungen haben konnte, je nachdem, wie man ihn betonte. Laute, die im normalen Sprachfluss nahtlos und ununterscheidbar ineinander übergingen und dazu noch halb verschluckt wurden. Oft schien ihm seine Zunge zu klobig, seine Lippen zu steif, um diese Sprache jemals zu meistern, sein Gehör nicht fein genug gestimmt.

Umso mehr, als entlang der Küste gleich mehrere Sprachen gesprochen wurden, die sich für seine Ohren in keinster Weise ähnelten und ihn oft in eine Verwirrung stürzten, wie nach dem Turmbau zu Babel.

Manchmal versuchte er sich daran, Lian von seiner Herkunft zu erzählen. Ihre Fragen nach seinem Land und seinem Leben dort zu beantworten. Meist mit einem Gefühl der Unzulänglichkeit. Flach und blass kamen ihm seine Schilderungen vor. Unscharf und nichtssagend, gleich in welcher Sprache. Sicher auch deshalb, weil er so wenig Möglichkeiten fand, Vergleiche heranzuziehen, Verbindungen zu knüpfen, um die Dinge, über die er sprach, plastischer zu machen, greifbarer.

Er war eben kein Geschichtenerzähler. Kein Poet.