Dafür verwünschte ich diesen Engländer, so ungerecht das auch war. Versuch es wenigstens, hätte ich zu ihm sagen müssen. Ihn so lange bearbeiten und bis aufs Blut reizen, dass sein Widerstand in sich zusammenfiel. Wie es ein guter Meister getan hätte.
»Du verdienst es«, sagte ich stattdessen, »wenn sie dich in irgendeiner Gasse verprügeln und berauben, das nächste Mal.«
Ich klaubte meine Jacke und mein Schwert vom Boden auf und ging davon.
Ziellos wanderte ich über die Insel.
Unter einem Himmel, der sich ständig veränderte. In seinen Farben, seinem Licht, seinen Wolkenmustern.
Nach einem Meer aus Gras hielt ich Ausschau, um es mit meinem Schwert niederzumähen. Nach Baumschösslingen, die ich köpfen wollte. Einem Bambushain, den ich in Stücke schlagen konnte.
Auch wenn das bedeutete, dass ich die Nacht damit zubringen würde, die stumpfgehauene Klinge meines Schwerts wieder zu schärfen.
Ich gab mir alle Mühe, die Wärme seiner Hände auf meinen Schultern abzuschütteln. Den Druck seiner Finger, den ich noch lange danach spüren konnte.
Doch überall, wo ich hinkam, wurde ich an Fortune erinnert.
In all dem Grün. Den Gestalten der Bäume und Sträucher.
In diesen Blüten. So vielen Blüten.
Meine Schritte wurden leichter, mit jedem li, das ich zurücklegte.
Ein See aus Farben war die Insel, den ich staunend durchquerte, als sähe ich alles zum ersten Mal.
Konnte man darüber seinen Zorn vergessen? Seinen Kummer?
Zumindest spendete es mir Trost.
Ein Geschenk war es, das Fortune mir da gemacht hatte. Indem er mir die Augen öffnete für dieses Wunder. Etwas, das vielleicht bleiben würde, wenn er selbst schon längst fort war.
Wie mir auch so vieles, was Yun mich gelehrt, was ich durch ihn erfahren hatte, geblieben war.
Vielleicht blieb am Ende nicht immer nur das Schlechte übrig, sondern auch etwas Gutes. Ein Echo der Schönheit, die einmal gewesen war.
Zhoushan, im März
Liebe Jane,
vielleicht liegt es am Rausch der Blüten und ihrer Farben – am Frühling hier in Zhoushan, der keinem Frühling gleichkommt, den ich je erlebt habe – in seiner Pracht, seiner Herrlichkeit, seiner himmelsstürmenden, alles überwältigenden Kraft – ich muss Dir schreiben, Dich wissen lassen, was und wie viel Du mir bedeutest.
Ich kann
Fortune ließ die Feder sinken und starrte auf die hastig niedergeschriebenen Zeilen.
Sein emotionaler Erguss war ihm bereits jetzt unangenehm. Dabei hatte er noch nicht einmal an der Oberfläche dessen gekratzt, was in ihm vorging. Was ihn bewegte, berührte, aufwühlte.
Er konnte diesen Brief nicht beenden, noch würde er einen zweiten Versuch wagen. Er legte die Feder beiseite, nahm das Blatt Papier und zerriss es.
Er wünschte sich, er könnte dieses Sehnen, das sich durch ihn hindurchfraß, genauso leicht aus sich herausreißen.
Dieses Sehnen, das britischem Heimatboden galt. Seinem Zuhause, dem kleinen Cottage und den Treibhäusern des Botanischen Gartens von Chiswick.
Jane. Jane und den Kindern.
Natürlich galt ihnen dieses Sehnen, wem auch sonst.
Obwohl dieses Gefühl nicht mehr konstant in dieselbe Richtung wies, eine ins Trudeln geratene Kompassnadel.
Er beschwor Janes leise, manchmal etwas spröde Stimme herauf. Ihr längliches, immer blasses Gesicht. Besonders wenn sie einen Hut mit breiter Krempe trug, erinnerte sie ihn an ein Veilchen, das im Schatten eines Baumes wuchs.
An ihre Augen dachte er. Augen, aus denen sich in seiner Fantasie die Blüten von Clematis lanuginosa entfalteten. Diese azurblauen Sterne, über denen er Lian hier in Zhoushan begegnet war, im vergangenen Herbst.
Jetzt, nach dieser langen Zeit, fiel ihm ein, was die Clematis bedeutete.
Innere Schönheit. Reine Liebe.
Fortune schüttelte den Kopf, um diese Bilder, diese Gedanken zu vertreiben, rieb sich über die brennenden Lider. Es war höchste Zeit, dass er nach Hause zurückkehrte. Etwas in ihm war hier in China dabei, in Unordnung zu geraten. Ein Gefühl, das ihm ganz und gar nicht behagte.
Dem er sich dennoch nicht entziehen konnte.
31
Es war schon dunkel, in der Stunde der Ratte, als ich nach Dinghai zurückkehrte und mich in mein Kämmerchen schlich.
Und es war auch noch dunkel, als ich zwischen der Stunde von Tiger und Hase die Anhöhe hinter der Stadt erklomm.
Ich schlüpfte aus meiner Jacke, zog mein Schwert, atmete tief ein und aus.
Ich begann langsam. Mit neili, um meine Kraft zu wecken und zu lenken. Im Reigen von Pferd, Goldenem Hahn, Affe, Schlange, Tiger, Kranich, Schwarzem und Weißem Drachen.
Mein Atem formte sich zu Lauten, fauchend, zischend, bellend, brüllend, als ich den Kampf gegen die Schatten aufnahm. Laute, die mehr und mehr Lebensenergie aus der Tiefe heraufbeförderten und durch meine Glieder jagten. Während ich Räder schlug und Saltos, über den Boden rollte, in die Höhe sprang und Pirouetten drehte. In zhaoshi, der von Generation zu Generation weitergegebenen Abfolge von Bewegungen, in denen ich mein Schwert schwang, seine Klinge im ersten Licht des neuen Tages ein Band aus silberner Seide, das mich nach und nach in ein Netz aus Gold spann.
Kein Gegner aus Fleisch und Blut verlangte Körper und Geist so viel ab wie der Kampf mit sich selbst. Der Kampf gegen die eigenen Dämonen.
Andere zu beherrschen, ist Macht. Dich selbst zu beherrschen, macht dich furchtlos. So hatten es mich meine Meister gelehrt.
Schwer atmend hielt ich inne, als ich aus dem Augenwinkel einen Schatten bemerkte, der den Hügel heraufkam. Langsam, wie zögernd. Ich wischte mir den Schweiß aus den Augen. Länger und länger zog sich dieser Schatten vor der aufgehenden Sonne, wurde zur Gestalt eines hochgewachsenen Mannes.
Mein pumpender Herzschlag kippte für einen Augenblick ins Unregelmäßige, und ein Lächeln glitt über mein Gesicht.
»Ich hatte nicht geglaubt, dich hier wiederzusehen«, begrüßte ich ihn.
»Ich auch nicht.«
Etwas an ihm wirkte entschlossener als gestern. Entschiedener.
»Aber ich musste einfach kommen.«
Er schälte sich aus seiner Jacke und krempelte die Ärmel seines Hemdes auf.
Ich bückte mich und steckte mein Schwert zurück in seine Scheide, hob dafür die beiden Bambusstöcke auf, die ich gestern im Wald geschlagen hatte. Einen davon warf ich Fortune zu, der ihn ungeschickt mit beiden Händen fing und zweifelnd beäugte.
Ich schwang meinen Stock durch die Luft, wirbelte ihn in den Händen herum, damit ich wieder ein Gefühl für diese schwere, klobige, aber so wirksame Waffe bekam.
»Fertig?«
»Nein.«
Ich schlug zu, und mit einem trockenen, hohlen Geräusch prallte Fortunes Stock gegen meinen. Ein reiner Reflex musste es gewesen sein, so erstaunt blickte er drein.
»Du kämpfst nicht fair«, beklagte er sich im Scherz.
Ich musste lachen, und auch um Fortunes Mund zuckte es.
»Sei auf der Hut, triffst du eine Frau in der Schlacht«, zitierte ich einen General der Ming, während ich zum nächsten Schlag ausholte. »Sie bedienen sich der Zauberkünste.«
Während die Sonne ihren roten Schleier ablegte und sich im hellen Tagesgewand über dem Horizont erhob, trieb ich Fortune über den Hügel vor mir her.
Die einzigen Geräusche neben dem Morgenlied der Vögel waren das Aufeinanderschlagen der Stöcke und unsere Atemzüge. Unsere Schritte im Gras: tänzelnd und flink meine, schwerfällig, stampfend und stolpernd die seinen. Meine Ausrufe zwischen seinem Keuchen, seinem Schnaufen und Prusten, ein leises Auflachen dann und wann.
Immer wieder trafen sich unsere Blicke. Herausfordernd. Angestrengt, fast grimmig. Unsicher und überrascht. Lächelnd.
Und die ganze Zeit über war ich froh über die Distanz, in der uns die Bambusrohre hielten.