Grelle Blitze zerrissen die Dunkelheit und ließen Fortune geblendet zurück, gefolgt von Donnerschlägen, unter deren Nachhall der Berg erzitterte. Eine gesichtslose Gottheit, die den Sterblichen zürnte, weil sie sich in ihr geheiligtes Reich hinaufwagten.
In der Ferne glommen goldene Fünkchen in der Finsternis auf, in dem Toben der Elemente schwach und flüchtig wie Irrlichter.
Fortune wischte sich das Wasser aus den Augen, um besser sehen zu können.
Lichter von einer Behaglichkeit, die fast zu schön, zu unwirklich schien, um sich darauf freuen zu können. Die dennoch näher kamen, größer wurden. Die Dunkelheit erhellten und Hoffnung machten.
»Vorsicht«, sagte Lian über die Schulter. »Stufen. Stein ist glitschig.« Fortune nickte und setzte mit Bedacht einen müden Fuß vor den anderen. Auf dieser Treppe, die kein Ende nehmen wollte und die, statt auf die anheimelnden Lichter zu, geradewegs in den gewitterdunklen Himmel hinein zu führen schien.
Aus dem Rauschen des Regens, dem Rumpeln des Donners schälten sich Stimmen, schäumten zu ihnen herunter.
Herein! Was für ein Wetter! Herein, nur herein! Willkommen! Warm bei uns und trocken. Hunger? Kommt herein!
Lachende Gesichter und Roben in Gelb, Orange und Rot schwebten ihnen entgegen, umtanzten sie wie fröhliche Schmetterlinge, die sich in der Jahreszeit geirrt hatten.
Flackernde Lämpchen füllten den Raum mit sanftem Licht. Mit einem Geruch, der die Aromen der aufgetragenen Mahlzeit beizte.
Im Schneidersitz kauerte Fortune an der niedrigen Tafel, mitten in einem kleinen Kreis aus Mönchen, die andächtig ihrem Abt lauschten.
»Vor vielen, vielen hundert Jahren«, begann er gerade seinen Gästen die Geschichte dieses Klosters zu erzählen, »zog sich ein frommer alter Mann von der Welt zurück. Hierher, in diese Berge, um sich ganz seinem Glauben zu widmen. So ernst war es ihm mit dieser Hingabe, dass er all seine irdischen Bedürfnisse vernachlässigte. Sogar das Essen. Die Vorsehung jedoch …«
Fortunes Blick wanderte über die dampfenden Schüsseln hinweg zu Lian.
Mädchenhaft scheu sah sie aus, wie sie mit gesenkten Lidern hier am Tisch saß, das noch feuchte Haar zum strengen Zopf geflochten.
Stets aufs Neue sah er sie vor sich, als er die Anhöhe hinter Tinghae erklomm, wie sie allein mit ihrem Schwert gekämpft hatte wie gegen eine ganze Armee aus Geisterkriegern. Dunkel und rau waren die Rufe gewesen, die sie dabei ausstieß. Von einer solch archaischen, geradezu dämonischen Kraft, dass es ihm die Nackenhaare aufstellte.
Die Rufe einer Kriegerin.
Ein Schatten war sie gewesen im pastelligen Licht des Morgens, der scheinbar mühelos alle Grenzen des menschlichen Körpers und der Schwerkraft sprengte. Ein Tropfen unbändiger Lebenskraft, der wie durch einen Zauber akrobatische Sprünge und Drehungen vollführte, in einer Schnelligkeit, von der er niemals geglaubt hatte, dass ein Mensch dazu fähig sein könnte. Schon gar nicht mit einem Schwert in der Hand.
Ein Anblick, der ihn mit Bewunderung erfüllt hatte. Mit staunender Ehrfurcht.
Während er selbst unter Lians Anleitung mit den allereinfachsten Grundlagen des Kampfes rang. Die Koordination von Augen, Armen, Beinen. Das Wechselspiel von Anspannen und Loslassen. In einer hölzernen Steifheit. Einer quälenden Langsamkeit. Sogar das richtige Atmen musste er erst lernen.
Das Licht in diesem Raum des Klosters, dieses sanfte, flackernde Licht, brachte etwas an Lian zum Leuchten. Der Widerschein auf dem roten Gewand, das die Mönche ihr geliehen hatten, bis ihre eigenen Sachen am Feuer getrocknet waren. Weich und weiblich wirkte sie.
So viele Gesichter hatte er schon an ihr gesehen. So viele Rätsel, die sie noch bergen mochte.
Etwas regte sich in seiner Brust.
»… nichts anderes als ein Wunder war es, dass diese Jungen sich jeden Tag hier auf dem Berg einfanden, um ihm Reis zu bringen und Früchte und Beeren. Damit der alte Mann nicht des Hungers starb, während er den Weg der Erleuchtung beschritt. Jungen, die blieben, um ebenfalls diesen Weg zu gehen. Durch das ganze Land verbreitete sich die Kunde vom alten Weisen auf dem Berg und seinen Schülern, und aus allen vier Himmelsrichtungen strömten Suchende herbei, die nach Rat und Unterweisung verlangten. Ein Tempel wurde errichtet, der den Namen Tiantung bekam – Tempel der Himmelsjungen ...«
Neben ihm unterdrückte Wang ein Gähnen, begann dann unruhig auf dem Sitzpolster hin und her zu rutschen.
»… deshalb ist es nicht nur unsere Pflicht, Reisenden wie euch ein Obdach zu geben und sie reichlich zu bewirten. Sondern vielmehr eine Ehre, die uns an die Ursprünge unseres Klosters erinnert.«
Auf einen Wink des Abtes hin griff einer der Mönche zum Schöpflöffel, und aufatmend hielt ihm Wang seine Essensschale hin.
»Nicht übel«, flüsterte er Fortune nach den ersten gierigen Happen zu. »Für ohne Fleisch. Weil Mönche von Buddha nicht essen Tiere.«
Überrascht betrachtete Fortune den Inhalt seiner Schale, der ihm ausnehmend gut schmeckte; er hätte schwören können, dass Huhn oder Rind darunter war.
Während Wang mit vollem Mund den Männern des Klosters von ihrer Anreise erzählte und die überstandenen Gefahren aufs Dramatischste ausschmückte, fiel Fortune auf, dass keiner der Mönche mitaß.
Unwillkürlich wanderte sein Blick über die anwesenden Gesichter, manche davon noch kindlich, andere schon im mittleren oder sogar höheren Lebensalter. Glückliche Gesichter schienen es zu sein: sie lachten viel, während sie mit glänzenden Augen Wangs Schilderungen folgten, ihn mit neugierigen Fragen bestürmten. Ausgezehrt wirkte keines dieser Gesichter, aber auch nicht besonders wohlgenährt. In der Annahme, dass diese üppige Mahlzeit für unangekündigte Gäste zu Lasten der Mönche gehen könnte, ließ er seine Stäbchen sinken.
»Ist in Ordnung«, hörte er Lian auf Englisch flüstern. »Sie haben schon gegessen. Mönche essen nie spät. Und ist Brauch, Gästen viel zu geben. Bringt Segen.«
Seine Befürchtung wurde dann auch noch vom Abt selbst zerstreut, der erzählte, dass das Kloster von seinen Ländereien lebte. Vom Verkauf von Bambus und Feuerholz, von Reis und Tee. Dazu kamen die Gaben der Gläubigen, die hierher pilgerten, und die Almosen, die ausgesandte Mönche von ihren Wanderungen mitbrachten. Genug, um die insgesamt hundert Mönche ausreichend zu versorgen, von denen aber nur ein Bruchteil ständig im Klosterbau lebte.
Und obwohl Fortune ihm aufmerksam zuhörte, sich ab und zu an einer Frage auf Chinesisch versuchte, sah er immer wieder zu Lian.
Sie, die sonst mühelos eine Portion wie für einen ausgewachsenen Mann vertilgen konnte, pickte nur zaghaft in ihrer Essensschale. Traurig und angestrengt wirkten ihre Züge, ihre Schultern waren angespannt.
Sie litt. Ohne dass er wusste, warum, oder etwas daran ändern konnte.
Die Regung in seiner Brust verstärkte sich, der eilige Flügelschlag eines jungen Vogels, der fliegen lernt.
33
Ich hätte nicht hier sein sollen.
Ich wollte auch nicht hier sein.
Klöster hatte ich auf meinen Wanderungen immer gemieden.
Nonnenklöster waren selten im Reich, und traurige Orte waren es noch dazu. Kaum ein Mädchen oder eine Frau folgte aus freien Stücken dem Ruf des Klosterlebens. Eher wurden sie dorthin verbannt: Mädchen, die in Sünde gefallen oder mit Gewalt ihrer Unschuld beraubt worden waren. Für die sich kein Mann fand, weil sie zu hässlich waren, es zu viele Mädchen im Umland gab oder die Eltern den Brautpreis nicht aufbringen konnten. Ehefrauen, die sich nicht mit einer wachsenden Zahl von Konkubinen im Haus abfinden wollten oder unfruchtbar blieben. Witwen, die Kindern und Enkeln als unnütze Esser lästig waren.
Meist zogen sie den Freitod einem Leben im Kloster vor, das schien ihnen wohl einfacher. Ehrenhafter.
In den meisten Mönchsklöstern hingegen hatte ich als Frau keinen Zutritt. Darüber hatte ich mich immer geärgert. Gerade von Mönchen hätte ich etwas anderes erwartet, schließlich waren Mönche auch nicht überall hoch angesehen. Lass nie drei Großmütter an deiner Halle vorbeigehen, hieß es schon zu Zeiten der Ming. Lass unter keinen Umständen eine Nonne herein. Keinen Mönch, keinen Meister, keine Hebamme und keinen Geldverleiher.