Und von den vielen Kindern dort.
Kinder, die durch die Gänge und Hallen sprangen und rannten, in lebenssprühender Ausgelassenheit. Deren Rufe, deren Lachen von den altehrwürdigen Mauern widerhallten.
Kinder, die nach der Aufmerksamkeit und dem Lob ihrer Meister gierten. Hungrig danach, es den vielen Mönchen und Nonnen recht zu machen, vielleicht ein Fitzelchen Zuneigung zu erhaschen: ein warmes Wort. Ein Streicheln über den Kopf. Einen Leckerbissen oder auch nur einen liebevollen Blick.
Denn obwohl jedes Kind seine eigene Geschichte hatte, war es doch immer die gleiche: Keines von ihnen hatte noch eine Familie. Niemand in der Welt außerhalb des Klosters hatte sie gewollt.
Kinder, die in diesem Kloster ein neues Leben begannen, unter einem neuen Namen. Begierig waren diese Kinder, Freundschaften zu schließen.
»Da war … ein Junge. Yun. Ein bisschen älter als ich, aber schon viel länger im Kloster. So lange, dass er sich an kein anderes Zuhause erinnern konnte.«
Um meinen Mund zuckte es, als ich an Yuns weit auseinanderstehende Augen dachte, in seinem breiten, noch kindlich weichen Gesicht. An seine magere, schlaksige Gestalt.
»Als Kind sah er aus wie ein freches Äffchen. Genauso behände konnte er klettern, und genauso viel Unfug hatte er im Kopf. Es verging kein Tag, an dem er nicht irgendjemandem einen Streich spielte. Den anderen Kindern. Den Mönchen. Manchmal sogar unseren Meistern. Aber sobald er kämpfte… Ah.« Hingerissen war ich, immer noch, bei der Erinnerung an seine Kraft und Eleganz. »Geschmeidig und stark wie ein Leopard war Yun. Eine Naturgewalt, im Kampf. Die alles hinfort fegte, was sich ihm in den Weg stellte. Man konnte sich nur von ihm mitreißen lassen oder aber untergehen.«
Ich schloss die Hände eng um den Blütenzweig. »So waren wir. Als Kinder.«
Zwei Seelen, von den Göttern bei der Geburt mit einem roten Faden verbunden, der niemals durchtrennt werden konnte. Damals glaubte ich noch daran.
»Wir wurden älter. Waren fast erwachsen.«
Blicklos starrte ich vor mich hin, während Yuns Kindergesicht in meiner Erinnerung zu dem eines Mannes reifte. Mit einem starken Kinn, Wangenknochen scharf wie Messerklingen und unergründlichen Augen.
»Er … ich …«
Ich fand keine Worte für das, was wir gewesen waren. Einander bedeutet hatten.
Ich löste die Hände und klopfte mit einer davon auf mein Brustbein, in einer kleinen, flatternden Bewegung, unmittelbar über dem Herzen.
»Hier. Alles.«
Alles waren wir einander gewesen.
»Aber wir durften nicht. Verboten, für Brüder und Schwestern im Kloster.«
Alles hatten wir einander gegeben.
In einsamen, verborgenen Winkeln des Klosters. In gestohlenen Stunden.
»Sie überraschten uns eines Nachts. Zerrten uns vor die Meister und den Abt. Einen Tag gaben sie uns Zeit. Einen Tag, in einer Zelle, jeder für sich. Unser Gewissen zu prüfen und zu wählen. Wir beide oder das Kloster.«
Nicht den geringsten Zweifel hatte es für mich gegeben. Kein Zaudern.
»Ich hatte meine Wahl sofort getroffen. Lange bevor sie am Abend zu mir kamen. Ich erhielt Kleidung, ein paar Kupfermünzen und etwas zu essen, und mein Meister schenkte mir zum Abschied mein Schwert. Nach Sonnenuntergang schloss sich das Tor hinter mir, und ich wartete auf Yun.«
Es war kalt gewesen, oben in den Bergen, bitterkalt.
In jener Nacht, die finster und endlos war.
Und doch viel zu kurz.
»Bis die Sonne aufging, wartete ich.«
Yun hatte das Kloster gewählt.
Fortunes Hand legte sich um meine.
Es machte mir nichts aus, dass er mich so sah. Mit meinem alten Kummer, verwundet, klein und schwach. Dieser fremde Engländer, der schon bald wieder in sein Land zurückkehren würde. Bei ihm war mein Geheimnis gut aufgehoben.
Ich war gut aufgehoben, während er mich in seiner Hand hielt.
37
»Herr Fu-Chung! Herr Fu-Chung!«
Widerstrebend löste Fortune seine Finger, als Lian ihm ihre Hand entzog.
Zwei junge Mönche, noch halbe Kinder, kamen lachend angerannt. Wie Zwillinge wirkten sie, so ähnlich waren sie sich in ihrer Mimik, mit den großen Augen, dem übermütigen Strahlen. In der jugendlichen Zappeligkeit ihrer Glieder. Aufgeregt kichernd traten sie von einem Bein aufs andere, schubsten sich gegenseitig.
»Du«, flüsterte der eine.
»Nein, du.«
»Sag du.«
»Herr Fu-Chung.« Der zweite nahm sichtbar allen Mut zusammen und verneigte sich, um feierlichen Ernst bemüht. »Unser verehrter Chu Chih bittet Euch darum, uns in die große Halle zu begleiten.«
»Eine Überraschung für Euch, Herr Fu-Chung!«, fiel ihm der zweite rasch ins Wort.
»Ein Geschenk«, trumpfte der andere wiederum auf. »Weil Ihr uns morgen in aller Frühe doch schon wieder verlasst!«
Im zuckenden Schein unzähliger Flämmchen schien der hohe, weite Raum wie im Fluss zu sein.
Rote Säulen und Nischen leuchteten auf, um sich gleich darauf wieder in die Schatten zurückzuziehen. Schriftzeichen erglänzten und verloschen. Die Gesichter, die Gliedmaßen der Statuen erwachten einen Wimpernschlag lang zum Leben, um gleich darauf wieder in erhabener Bewegungslosigkeit zu erstarren.
Steifbeinig schritt Fortune durch die Allee aus Mönchen, kalten Stein unter seinen bloßen Fußsohlen. Sein Hemd hatte Blütenstaub aufgesogen und Staub, war mit Erde und Gras verschmiert. Er wünschte sich, er hätte wenigstens noch genug Zeit gehabt, sich zu waschen; nachdem er den halben Tag durch den Wald gewandert war, fühlte er sich klebrig vor angetrocknetem Schweiß.
Ein ungehobelter, schmutziger, stinkender Barbar war er, hier in diesem Raum. In dieser Kammer, irgendwo tief im feurigen Herzen der Erde, unverändert seit Ewigkeiten und heilig.
Er hatte nicht die geringste Vorstellung, welches Auftreten von ihm erwartet wurde. Welche Gesten, welche Haltung, welche Worte. Welche Regeln hier galten.
Hilfesuchend warf er einen Blick zurück. Zu Wang, der ihm aufmunternd zunickte, ein schalkhaftes Grinsen in den Mundwinkeln, das den feierlichen Ernst auf seinem Gesicht, in seiner Haltung unberührt ließ. Dann zu Lian.
Klein und schmal nahm sie sich vor dem eindrucksvollen Portal der Halle aus; blass und reglos wirkte sie vor dem Hintergrund der kraftvollen Ranken, der mächtigen Blütenknospen aus dunklem Holz, die im Widerschein der Flammen pulsierten. Fast so weiß wie die Blüte der Gardenie, geradezu durchscheinend.
Ein Schlüssel war diese Gardenie gewesen, die etwas zu Lians Innerstem für ihn geöffnet hatte. Ohne Kalkül hatte er ihr die Blume von seinem Streifzug durch die Wälder mitgebracht, aber auch nicht gedankenlos. Blumen verschenkte man nicht unbedacht, selbst wenn man nicht um die genaue Bedeutung einer bestimmten Blüte wusste. Er hatte sich nur gewünscht, sie hätte eine andere Farbe gehabt als ausgerechnet Weiß, etwas anderes bedeutet als ausgerechnet Frieden, da sie beide doch nicht im Streit miteinander lagen. Auch wenn er nicht gewusst hätte, für welche Blume er sich entschieden hätte, hätte er die Wahl gehabt. Was er überhaupt damit hatte sagen wollen; er hatte es vorgezogen, nicht weiter darüber nachzudenken. Lieber hatte er sich auf die Rätsel konzentriert, die ihm die Regungen auf Lians Gesicht aufgaben.
Wie ihm auch jetzt die Art, wie sie ihren Kopf gesenkt hielt, Rätsel aufgab. Andächtig, ehrfürchtig? Gleichgültig, abweisend? Er wusste es nicht zu deuten.
Unwillkürlich schlossen sich seine Finger zur Faust. Als könnte er die Erinnerung an Lians Hand festhalten. An diese mädchenhaft kleine Hand, die jedoch alles andere als zerbrechlich war. Stark wie die Hand einer Frau, die es gewohnt war, zuzupacken, mit einer Spur von männlicher Kraft. Ihre einzige Schwäche war das Vertrauen gewesen, mit dem Lian ihm ihre Hand überlassen hatte.
Er hätte nie für möglich gehalten, dass etwas, das er einmal in seinen Händen gehalten hatte, sich im Rückblick unwirklich anfühlen würde.
Er gab sich einen Ruck und ging weiter, auf das Podest mit Abt Shanyuan zu, und erwiderte dessen Verbeugung, dachte sogar daran, dabei die Handflächen aneinanderzulegen.