»Verehrter Herr Fu-Chung – es war uns eine Ehre, Euch zu Gast in unserem bescheidenen Kloster zu haben. Vor allem sind wir Euch zu großem Dank verpflichtet. Wir bitten Euch, diese kleine Gabe als Zeichen unserer Wertschätzung anzunehmen, und hoffen, Ihr werdet Freude daran haben.«
Auf einen Wink von ihm traten zwei Mönche heran und öffneten die Truhe zu den Füßen des Abtes, schlugen das Sackleinen darin zur Seite.
Fortune starrte auf die feuchte Erde, auf die saftigen, blassgrünen Setzlinge darin.
Camellia sinensis.
38
Ningbo, 10. Mai 1844
Gestern am späten Abend aus den Bergen zurückgekehrt.
Ich kann nicht glauben, dass es nur fünf Tage gewesen sein sollen im Kloster von Tiantung, obwohl ich es in meinen Notizen schwarz auf weiß habe. Es kommt mir vor, als hätte
Überwältigt, immer noch, von den Erlebnissen dort. Von dieser Freundlichkeit, dieser Gastfreundschaft. Von diesem unglaublichen Geschenk, das mir anvertraut wurde.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Brechend voll war es in der Garküche »Zum Goldenen Ochsen«, ein paar Häuser von der Herberge entfernt. Nur mit Mühe hatten Wang und Fortune noch ein freies Fleckchen im hintersten Winkel des speckigen Raums ergattert.
»Maaah«, gab Wang genussvoll von sich. »Endlich Fleisch! Mönche von Tiantung gute Köche. Sehr gute. Hat Wang sich gewöhnen können, jeden Tag. Aber leben wie Mönch … Nie Fleisch auf Tisch. Ohne Frauen und alles … Nichts für Wang. Oder für Fu-Chung?«
»Nein.«
Fortune hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Unerträglich laut war es in der Garküche. Ein Orkan aus quäkenden und schnatternden Stimmen, dem Klappern von Geschirr und brüllendem Gelächter.
Er sehnte sich nach der Stille der Berge. Dem Grün der Teefelder.
Unbeholfen angelte Fortune mit den Stäbchen in seiner Essensschale herum. Inzwischen gelang es ihm recht gut, soßentriefende Klumpen von Reis und Stücke von Fleisch und Gemüse damit zum Mund zu führen. Wenn er sich darauf konzentrierte.
Eine Konzentration, die ihm an diesem Abend fehlte. Er hätte Suppe bestellen sollen. Die kam auch hierzulande mit einem Löffel auf den Tisch. Seufzend legte er die Stäbchen quer auf die noch fast volle Schale und erntete einen fragenden Blick von der anderen Seite des Tisches.
»Nicht gut?«, nuschelte Wang mit vollem Mund.
»Keinen Hunger«, erwiderte Fortune, obwohl es hohl in seinem Magen rumpelte.
Wangs Augen wanderten zwischen Fortune und dessen Essensschale hin und her, mit einem Ausdruck, der mal verlangend, mal neugierig wirkte. Sogar fast besorgt.
Fortune nahm seine Stäbchen wieder in die Hand und schob die Schale ein Stück auf Wang zu.
»Willst du?«
Wang legte den Kopf schräg.
»Will Wang schon. Glaubt nur nicht, dass Fu-Chung nicht Hunger.«
Obwohl Fortune dazu übergegangen war, seine neuen Kenntnisse des Chinesischen auch bei Wang zu üben, beharrte dieser nach wie vor auf seinem eigenwilligen Englisch.
Fortune schob die Schale weiter über den Tisch.
Ein kleines Grinsen, und schon machte Wang sich schmatzend über Fortunes Mahlzeit her.
»Fu-Chung schaut ganzen Tag so schafig.«
»Belämmert, meinst du?«
»Lämmert. Ja. Versteht Wang nicht. Fu-Chung glücklichster Mann weit wie breit, heute. Hat Teepflanzen. Ist reich und berühmt, wenn wieder zu Hause. Warum dann lämmeriges Gesicht, hng?«
Fortune zögerte seine Antwort hinaus.
Während er die Essstäbchen zwischen den Fingern drehte, ließ er seinen Blick durch die Garküche wandern, ob irgendjemand hier dem Fremden und seinem Begleiter größere Aufmerksamkeit schenkte, vielleicht ihr Gespräch belauschte.
Lian hätte er sich bedenkenlos anvertraut.
Aber Lian war nicht hier.
Blass war sie gewesen und still. Angespannt bis zum Zerreißen; jedes Rascheln im Gras hatte sie auffahren lassen, den ganzen Weg von Tiantung zurück nach Ningbo.
Stumm hatte sie zugesehen, wie er die Teesetzlinge in ihrer Muttererde in ein Wardian Case bettete.
Stumm war sie dann danebengestanden, als er für seine gesammelten Schätze im Hafen eine Passage buchte, gleich für den nächsten Morgen.
Und genauso stumm hatte sie seine Einladung in eine Garküche ausgeschlagen, sich nur kopfschüttelnd umgedreht und die Tür zu ihrer Kammer hinter sich geschlossen. Als ob sie ihm damit zu verstehen geben wollte, dass diese Momente der Nähe in Tiantung ein Versehen gewesen waren. Momente der Schwäche, flüchtig und bereits Vergangenheit.
Er sah wieder zu Wang, der mit seinen Stäbchen einen Strang Nudeln aus der Schale in seiner Hand hob und geräuschvoll in den gespitzten Mund saugte.
»Es war so einfach«, begann er, die Stimme unwillkürlich gedämpft. »Eigentlich viel zu einfach. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet mir das Los zugefallen sein soll, dem Tee auf die Spur zu kommen.«
Wang kniff die Augen zusammen. »Komisch Gedanken macht Fu-Chung. Wenn Himmel oben Pflaume fallen lasst – einfach Mund auf! Nicht lange fragen oder denken.«
»Trotzdem. Die ganze Zeit, seit England mit China Handel treibt, und während des Krieges … Wir hatten die Teepflanzen buchstäblich vor der Nase.«
Belehrend hob Wang die Stäbchen. »Nicht immer gut, wenn vor der Nase! Wenn zu dicht mit Nase dran, nicht klar sehen.«
Fortune schmunzelte. »Das stimmt.«
Wissen kann immer nur auf dem aufgebaut werden, was bereits bekannt ist. Das war einer der Grundsätze in der Botanik. Doch zuweilen lähmte dieser Ansatz das Denken. Die Kühnheit, etwas Altes aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Etwas, das längt feststand, auseinanderzunehmen und die einzelnen Teile zu beleuchten. Um Raum zu schaffen für Neues. Etwas in Bewegung zu versetzen, in Schwung zu bringen.
»Ich selbst habe ja auch in Zhoushan wilde Teesträucher gesehen und nicht weiter darüber nachgedacht. Ihnen nicht einmal einen zweiten Blick geschenkt oder gar hinterfragt, ob die überlieferte Klassifizierung und Bezeichnung berechtigt ist. Und plötzlich …«
Mit seinen Stäbchen beschrieb er einen Bogen durch die Luft, eine Geste der Ratlosigkeit.
Wang legte den Kopf schräg und blinzelte ihn listig an.
»Hätte Wang auch sagen können Fu-Chung – dass grüne Tee und schwarze Tee gleiche Pflanze. Hätte …«
»Hätte ich nur gefragt, ich weiß.«
Wang erwiderte Fortunes Lächeln mit einem breiten Grinsen.
»Aber was dann Grund für lämmertes Gesicht von Fu-Chung? Ist alles gut, ja?«
Sein ganzes Leben hatte Fortune auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Etwas aufzuspüren, das vor ihm noch niemand entdeckt hatte, mit Glück und Geschick. Dass ihm das Schicksal nun ausgerechnet die kostbare Teepflanze vor die Füße gelegt hatte, war das mögliche erste Aufleuchten einer botanischen Sternstunde.
Fortune war jedoch zu rational, um sich von diesem Sternenglanz blenden zu lassen und in Euphorie zu verfallen.
»Wie man’s nimmt.«
Er hatte darüber nachgedacht, die Teesetzlinge bei sich zu behalten, bis er China verließ. Persönlich darüber zu wachen, während der Überfahrt nach England.
Doch auch er würde sie nicht vor allen Wagnissen einer solchen Reise bewahren können. Ein Risiko, das er ungefähr gleich hoch einschätzte wie dasjenige, dass ihnen hier etwas zustieß, in seiner Kammer.
In Ningbo glaubte man nicht an Schlösser. Nur an Riegel auf der Innenseite der Tür. Wer sein Zimmer ohne sein Geld und kostbare Habe verließ, war selbst schuld.
»Vier Monate werden die Pflanzen unterwegs sein. Keiner weiß, ob sie England heil erreichen. Ob sie dort überleben, selbst in einem Treibhaus. Wenn sie im August dort eintreffen, werde ich schon nicht mehr hier sein. Weil auch jede noch so eilige Nachricht der Society ebenfalls vier Monate braucht, um hier anzukommen. Sind die Pflanzen auf ihrer Reise eingegangen, werde ich erst davon erfahren, wenn ich selbst wieder zu Hause bin. Zu spät, um nötigenfalls neue Setzlinge zu beschaffen.«