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Dreißig Meilen. Das war die unsichtbare Grenze. Dreißig Meilen hinter den durch den Vertrag von Nanking geöffneten Hafenstädten Amoy, Ning-po, Fouchou, Canton und Shanghai – weiter ins Landesinnere durfte sich kein Ausländer bewegen.

Fortune hatte keine Ambitionen, unbedingt in die Regionen vorzudringen, in denen vor ihm noch kein Weißer gewesen war. Er musste nicht in die Fußstapfen von Marco Polo treten. Nicht in die der Jesuiten, die in früheren Zeiten frei im Land umherstreifen durften, bis man ihnen nach und nach immer größere Steine in den Weg legte und sie schließlich hinauswarf.

Alles, was er wollte, war, innerhalb dieser dreißig Meilen die schönsten, die kostbarsten Pflanzen zu finden und sie nach Hause zu bringen.

Sein Glück wollte er hier machen, ohne auch nur eine einzige unsichtbare Grenze zu verletzen, und danach heimkehren.

In sein eigenes kleines Leben. In sein Land, in dem er sich auskannte und dessen Sprache er beherrschte.

Falls sich Heimweh so definierte – dann litt er soeben daran.

2

In meiner Nische hoch oben lauschte ich auf die Schritte weit unten, auf dem Grund des Turms. Schwere Schritte waren es, vom steinernen Leib der Pagode hallend zurückgeworfen. So laut, dass sie sogar noch im Tosen des Windes zu hören waren.

Aus dem Augenwinkel hatte ich die Gestalt bemerkt, die sich durch die Ruinen näherte, schnell und wie auf der Flucht. Jedoch aufmerksam genug, um zielstrebig einen Weg zwischen den Trümmern hindurch zu finden, ohne dabei zu stolpern.

Ein Mann mit Hut, eine Tasche und so etwas wie eine schlanke Trommel umgehängt. Ein sehr großer Mann, gemessen an der Höhe der Steinblöcke.

Sogar aus meiner Perspektive wirkte er noch groß, wie er da unten stand, den Kopf in den Nacken legte und die Pagode betrachtete, bevor er darin verschwand.

Ein fremder Teufel.

Hier.

Was erstaunlich genug gewesen wäre.

Aber das Auf und Ab seiner Schritte jetzt und ihr ungleichmäßiger Takt verrieten mir, dass er das Innere der Pagode gründlich in Augenschein nahm.

Wozu?

Man musste schon sehr genau hinsehen und seiner Fantasie freien Lauf lassen, um den einstigen Glanz des Tempels erahnen zu können.

Dies hier war längst keine heilige Stätte mehr. Die Menschen von Shenhu beteten jetzt an den Schreinen in ihren Dörfern. Sofern sie überhaupt je beteten.

Deshalb kam ich hierher.

Um meine Finger in den porösen Stein zu krallen und die Wände der Pagode zu erklimmen. Um in Schattenkämpfen auf schmalen, abbröckelnden Vorsprüngen zu balancieren. Über die gähnenden Lücken in der verfallenen Wendeltreppe hinwegzusetzen, geschmeidig wie ein Wolkenleopard, ebenso flink, ebenso lautlos. Mal mit dem Wind zu tanzen, der durch die Fensternischen hereinflog und durch Ritzen im Stein wirbelte, mal mit ihm zu ringen.

Immer mit einem Zucken im Bauch, dass ich das Gleichgewicht verlieren und in die Tiefe stürzen könnte.

Nur ein Narr kennt keine Angst.

Angst lehrt einen zu unterscheiden: zwischen den Grenzen, die es zu überwinden gilt, und denen, die man respektieren muss, schneller als ein Wimpernschlag.

An dieser Angst schärfte ich meine Sinne, meinen Willen, wenn ich in der verlassenen Pagode von Shenhu meinen Körper stark und biegsam hielt.

Und nichts kam dem gleich, danach mit ausgewrungenen Muskeln hier oben in einer der Fensternischen zu sitzen. Meinem Atem zu lauschen, der sich langsam beruhigte, meinem Herzschlag. Das Gesicht der Sonne zugewandt, dem vielstimmigen Wind zuzuhören, der meinen Schweiß trocknete. Den Vögeln so nahe, dass ich nur den Arm auszustrecken brauchte, um beinahe ihre Schwingen im Flug zu berühren.

Jedes Mal war mir hier oben, als fehlte nicht viel, um mit hochgereckter Hand den Himmel streifen zu können.

Das war meine Art zu beten.

Zu einem Gott, der kein Gesicht besaß und sich doch in tausend Gestalten widerspiegelte. Dessen Gesetze nirgendwo niedergeschrieben waren und die doch jedermann kannte. Der keinen Namen hatte und doch bei immer demselben genannt wurde: Gerechtigkeit.

Wie meine Meister es mich gelehrt hatten.

Die Schritte waren verstummt, und ich spähte die Fassade hinunter.

Der fremde Teufel hatte sich auf einer der abgewetzten Stufen niedergelassen, halb im Schatten einer schlanken Säule. Er zog den Hut vom Kopf und wischte sich mit dem Jackenärmel über Gesicht und Stirn.

Wie er den Hut in den Händen drehte und dabei auf die Ruinen blickte, wirkte er gedankenverloren. Fast melancholisch.

Eine zweite Gestalt kämpfte sich durch die Mauerreste. Noch ein Mann, am baumelnden Zopf unschwer als ein Landsmann von mir zu erkennen. Kleiner als der fremde Teufel, aber recht groß für jemanden von der Küste. Zu groß für einen Mann aus Shenhu. Der Wind trug seine Stimme, die fragend etwas rief, zu mir herauf, zerpflückte dabei jedoch die Worte zu undeutlichen Lautfetzchen.

Es schien, als suchte er nach dem fremden Teufel.

Zwei Fremde, allein hier oben.

Ich witterte Ärger.

3

»Fu-Chung! Fu-Chung!«

Wang schnaufte wie eine Lokomotive, während er über die Ruinen hinwegkletterte.

Fortune drückte sich den Hut wieder auf den Kopf und stand auf.

»Fu-Chung kann nicht einfach weglaufen! Ist er Mann oder Mädchen? Ich mach alles, um Gesindel zu verjagen – und dann ist Fu-Chung weg! Weg! Allein! Muss Wang ihn erst suchen gehen! Wie soll Wang da Schutz geben, hng?!«

Schweigend schlug Fortune den Weg bergab ein. Einen anderen als den, den er aufwärts genommen hatte – für den Fall, dass die geschäftstüchtige Meute auf der anderen Seite des Hügels sich noch nicht zerstreut hatte.

Hin und wieder beschlichen ihn Zweifel, ob er bei Wang wirklich in guten Händen war.

Letzten Endes gab es jedoch nicht allzu viele Chinesen, die sowohl ein bisschen Englisch als auch mehrere der chinesischen Dialekte beherrschten. Und die dazu noch bereit waren, für mehrere Monate einen fan-kwai unter ihre Fittiche zu nehmen.

Ein Umstand, der Wang ebenfalls bewusst zu sein schien.

Seine Beschwerden, Klagen, Ermahnungen perlten an Fortune ab wie das Wasser am Gefieder einer Ente.

Er hatte sie nicht kommen sehen.

Sie waren auf einmal da, auf dem schmalen Pfad zwischen den Felsen.

Ein halbes Dutzend Männer, bewaffnet mit Bambusstöcken.

Jetzt wünschte Fortune sich, er hätte auf Wang gehört. Auf die Warnungen der Fischer unten an der Küste und auf den Fährmann, der sich als Geleitschutz angeboten hatte. Er verfluchte sich dafür, die Flinte und die Pistole, um die er so hart mit der Society gefeilscht hatte, in seiner Unterkunft zurückgelassen zu haben, weil sie ihm hinderlich waren, wenn er Blumen pflückte und Pflanzen samt der Wurzel ausgrub.

Vermutlich hätten sie ihm ohnehin nichts genutzt. Er war schon immer ein lausiger Jäger gewesen, der ein Karnickel nur dann traf, wenn es gerade stillsaß, und froh sein konnte, wenn er sich dabei nicht selbst in den Fuß schoss.

Wie eine Brandungswelle stürzten die Männer vorwärts und warfen sich auf ihn.

Mit der Botanisiertrommel schlug er um sich, nutzte sie mal als Prügel, mal als Schild. Er war größer und stärker, aber sie waren zu viele. Zu entschlossen.

Zu viele Stöcke, die auf ihn eindroschen; zu viele Füße, die nach ihm traten.

»Hilfe!«, hörte er hinter sich. »Wang holt Hilfe! Fu-Chung, haltet durch!«

Dann gab es nur noch dumpfe Schläge. Heiser gebellte Beschimpfungen und Forderungen. Sein eigenes zorniges, hilfloses Gebrüll, das ihm jedoch im Hals stecken blieb, als sie ihm die Beine wegkickten und er hart aufschlug. Der Hut flog ihm vom Kopf, und die ersten Finger wühlten sich in seine Tasche, seine Kleider, gierig nach etwas von Wert.

Eine Stimme schnitt durch die Luft, scharf und glatt, und eine Klinge blitzte auf, dahinter ein grimmig verzogenes Gesicht.

Er riss die Arme hoch, um Kopf und Hals zu schützen, kniff die Augen zusammen; er wollte es nicht sehen, wenn die Klinge ihn traf.