Ich hob das Talglicht vom Boden auf, betrachtete in seinem Schein mein Werk. Niemand, der nicht ganz genau hinsah, würde bemerken, was ich getan hatte. Vielleicht aber würde es genügen, damit die Pflänzchen niemals lebend ihr Ziel erreichten.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Auch dann nicht, nachdem ich vor meiner Tür Fortunes feste Schritte gehört hatte, Wangs Stimme und sein Gelächter verstummt waren.
Ich hatte das Richtige getan für die Menschen meines Landes, das wusste ich. Aber ich wusste nicht, wie ich Fortune morgen noch in die Augen schauen sollte. Oder übermorgen.
Und an allen anderen Tagen, die noch blieben.
Ningbo, 10. Mai 1844
Sehr verehrter Mr Lindley,
ich schreibe Ihnen heute in einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit und Dringlichkeit.
Mit diesem Brief erhalten Sie diverse Specimina aus Zhoushan (Chusan) resp. Ningbo (Ning-po) und der unmittelbaren Umgebung. Eine nähere Aufstellung derselben ist diesem Schreiben beigefügt.
Zudem übersende ich Ihnen Wardian Cases aus Zhoushan und eines mit Setzlingen der Teepflanze nebst dem konservierten Zweig einer ausgewachsenen Teepflanze.
Letztere habe ich von einem mehrtägigen Aufenthalt im Landesinnern mitgebracht, und zwar aus dem Teegarten des Klosters von Tiantung, ca. 20 Meilen von Ningbo (Ning-po) entfernt.
Zu meinem großen Erstaunen konnte ich dort feststellen, dass unsere bisherige botanische Klassifizierung von Thea bohea und Thea viridis falsch ist resp. nicht der Realität entspricht.
Es scheint nur eine einzige Teepflanze zu existieren – nämlich die hier beigefügte, die ich als Camellia sinensis (nach Linnaeus) bestimmt habe.
Aus dieser werden sowohl der schwarze als auch der grüne Tee hergestellt, mittels eines Verfahrens, das – soweit ich die Erläuterungen verstanden habe – einerseits sehr simpel ist, andererseits spezialisierte Kenntnisse und bestimmte Fertigkeiten erfordert.
Eine Zusammenfassung meiner Beobachtungen und der Erklärungen, die ich von den Mönchen erhalten habe, liegt diesem Schreiben bei. Weiterhin eine kleine Aufstellung der geografischen und meteorologischen Gegebenheiten der besuchten Teegärten (soweit mir dies in der Kürze der Zeit möglich war) und einige Anmerkungen zur Beschaffenheit des Bodens.
Zur weiteren Erforschung der Wachstumsbedingungen von Camellia sinensis sowie der Herstellung des Tees von chinesischem Qualitätsniveau halte ich es für unerlässlich, China nicht wie geplant im Juli zu verlassen, sondern – abweichend von den Instruktionen der Horticultural Society – meinen Aufenthalt hier zu verlängern.
Zu diesem Zweck werde ich voraussichtlich spätestens im September das Küstengebiet verlassen und den Winter in der Provinz von Anhui verbringen, in der Nähe eines großen Teegebietes, wo ich ein privates Quartier bei der Familie eines Teebauern zu beziehen gedenke.
Dort werde ich im Frühjahr in der Lage sein, den Teeanbau und die Verarbeitung genauer zu studieren und nach meiner Rückkehr der Society einen entsprechend fundierten und ausführlichen Bericht vorzulegen.
Die möglichen Konsequenzen eines solch eigenmächtigen Handelns sind mir zur Gänze bewusst. Ebenso die Risiken,
die für mich mit einem Aufenthalt in dieser Gegend verbunden sind und die entsprechende Vorkehrungen und Vorsichtmaßnahmen erforderlich machen.
Genauso im Klaren bin ich mir allerdings auch über die mögliche Bedeutsamkeit und Reichweite meiner Entdeckung, und das nicht allein für die Horticultural Society und die Welt der Botanik.
Dies bitte ich die Herren der Horticultural Society bei der Beurteilung meines Handelns, ihrer Einschätzung dieser Entdeckung und der eventuellen Planung einer weiteren Vorgehensweise zu berücksichtigen.
Während meines Aufenthalts in Shanghai über den Jahreswechsel konnte ich feststellen, dass sich im Zuge der Öffnung des Hafens für den Westen inzwischen auch eine Niederlassung der Firma Jardine, Matheson & Co. dort befindet, die mir noch aus Hongkong bekannt ist.
Da ich in Anhui fern von allen Häfen sein werde und somit keine Möglichkeit besteht, Kontakt mit Personen aus England sowie dem übrigen Europa zu halten, möchte ich Sie bitten, künftige Schreiben an mich dorthin zu senden. Ein vertrauenswürdiger Kontaktmann oder aber ich selbst werden diese dann dort abholen. Wobei ich bereits jetzt um Ihr Verständnis bitte, sollte sich diese Abholung durch die doch beträchtliche Entfernung von geschätzt 400 Meilen verzögern.
Ich hoffe, möglichst bald von Ihnen resp. der geschätzten Horticultural Society zu hören.
Ganz besonders freue ich mich auf die Nachricht, in welchem Zustand die Pflanzen bei Ihnen eingetroffen sind.
Hochachtungsvoll,
Robert Fortune
PS: Beiliegend ein Brief an Mrs Fortune, mit der Bitte, ihr diesen zukommen zu lassen.
Es ist ein besonderer Tag, als der Postmann das Paket aus China bringt.
Wie Weihnachten mitten im blütenstrotzenden Mai, bei Sonnenschein und Bienengesumm und Vogelgezwitscher.
Helen und John sprudeln über vor Aufregung und zappeliger Vorfreude, während Jane eine Herrlichkeit nach der anderen auspackt und an sie weiterreicht.
Ein Jo-Jo, das Helens Geschicklichkeit und Geduld herausfordert. Kleine, bunt bemalte Kreisel, die John in Entzücken versetzen. Eine kleine Trommel mit Handgriff, auf die mit Schnüren befestigte Perlen klackern, wenn man sie rasch dreht, und die rasselt, wenn man sie schüttelt. Ein Stoffbeutel voller Puzzleteile aus Holz.
Die staunenden Ausrufe der Kinder, ihr Lachen und Glucksen und Plappern machen die Küche gleich noch einmal so hell.
Lächelnd sieht Jane ihnen zu, greift nur dann mit einem Hinweis, einer helfenden Hand ein, wenn eines der Kinder sie mit ratlosem Gesichtsausdruck darum bittet.
Immer wieder wandert Janes Blick zu dem Bündel, das einen Gutteil des Küchentischs einnimmt. Seit sie die grobe Baumwolle zurückgeschlagen hat und darunter der kostbare Stoff hervorglänzte, hat sie es nicht mehr angerührt.
An diese Kostbarkeit kann sie sich nur langsam herantasten.
Was hat er sich nur dabei gedacht!, geht ihr jedes Mal durch den Kopf, wenn sie den Ballen Seide betrachtet, und dabei schlägt ihr Herz schneller.
Jetzt streckt sie doch die Hand aus und fasst nach der äußersten Ecke der Seide, reibt sie vorsichtig zwischen zwei Fingern.
Dass er sich Gedanken dabei gemacht hatte, erkennt sie.
Es sind die Farben ihrer Augen, ihrer Haare; Farben, die sie selbst ausgesucht hätte. In einem Muster, das ihr gefällt.
Jane merkt, wie sie rot wird.
Wie damals, als er sie das erste Mal angesehen hat. Beim ersten Wort, das er an sie richtete. Als er das erste Mal ihre Hand nahm.
Beim ersten Kuss.
Ihre Röte vertieft sich.
Für einen Morgenrock ist die Seide zu schade, bei zwei kleinen Kindern im Haus. Es ist mehr als genug Stoff für ein Kleid, aber wann sollte sie ein solches auch anziehen? In Chiswick würde sie sich damit nur zum Gespött machen, in Swinton noch mehr.
Das war ein Stoff für feine Damen der Gesellschaft. Nicht für eine Jane Fortune.
Was hat er sich nur dabei gedacht.
Rasch lässt sie den Stoff los und widmet sich den kleinen Figuren aus grünem und marmoriertem Stein. Eine nach der anderen nimmt sie in die Hand, betrachtet sie genau.
Eine stellt einen Drachen dar, eine andere einen Greis mit Wanderstock und langem Bart und die dritte einen dickbäuchigen Mann mit kahlem Kopf.