Die übrigen Figuren jedoch geben ihr Rätsel auf.
Ein Frosch? Eine Kröte? Oder doch etwas anderes? Eine weitere Figur ähnelt mal einem bulligen Hund, mal einem Raubtier. Sie scheint mal Flügel, mal Arme zu besitzen, je nachdem, wie das Licht darauf fällt. Die nächste ist wie aus dem dickbäuchigen Mann, einem Molch und einem Bär zusammengesetzt; bei einer weiteren ist Jane unschlüssig, ob sie einen Menschen oder einen Affen zeigt.
Jane weiß nicht, was sie von diesen Figuren halten soll, die zwischen fremdartiger Schönheit und Scheußlichkeit schillern.
Sie stellt die letzte Figur auf den Tisch, schiebt sie von sich.
Etwas an ihnen ist ihr unheimlich, sie weiß nur nicht, was.
Wie Vorboten eines Unheils wirken sie.
Jane nennt sich selbst eine Närrin. Bestimmt ist es nur ihre Angst um Robert, die sie irrational sein lässt. So fern, wie er ihr ist, in einem Land voller Gefahren.
Jetzt stellt die Seide eine willkommene Ablenkung dar; behutsam streichelt sie darüber und beschließt, ein Lavendelsäckchen mit in die Baumwolle einzuschlagen und den Ballen erst einmal in der Kommode zu verwahren.
Bis sie weiß, wofür sie ihn verwenden wird.
Manchmal, in seltenen ruhigen Momenten, wird sie ihn hervorholen, über seine geschmeidige, kühle Glätte fahren und davon träumen, dass sie ihn hier in Chiswick doch einmal tragen kann.
Eines Tages. Irgendwann.
Chiswick, den 10. Mai 1844
Lieber Robert,
vermutlich wird Dich dieser Brief gar nicht mehr in China erreichen – trotzdem muss ich Dir einfach schreiben, was für eine große Freude Du uns mit Deinem Paket gemacht hast! Die Kinder sind entzückt von den Spielsachen, und ich kann Dir nicht genug danken für die herrliche Seide. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas bei uns schon einmal irgendwo gesehen zu haben, noch nicht einmal in London.
Die Jadefiguren sind wirklich fremdartig, aber sehr hübsch. Ich habe sie in einem Kästchen oben auf dem Schrank verwahrt, vor Johns neugierigen Fingern ist im Augenblick kaum etwas sicher.
Der Frühling ist dieses Jahr zeitig gekommen, mit sehr viel Sonne. Eine Wohltat, nachdem es im Februar noch so kalt war. Obwohl mittlerweile der Regen fehlt – der April war viel zu trocken und der Mai bislang ebenfalls. Die Bauern klagen darüber, und ich komme mit dem Gießen auch kaum hinterher. Aber man muss es eben nehmen, wie es kommt.
Die Kinder erfreuen sich jedenfalls am Wetter! Wir sind viel draußen, hier bei uns im Garten, am Bach und auf den Wiesen. Beide sind kräftig gewachsen und kerngesund, springen munter und rotwangig den Tag über umher und schlafen nachts wie die Murmeltiere.
Ich hoffe inständig, dass Du in China doch noch den Erfolg hattest, den Du Dir so sehr wünschtest. Trotzdem bin ich froh, dass Dein Jahr dort beinahe um ist.
Ich sehne mich nach der Nachricht, wann Du aufbrechen wirst und wir Dich zurückerwarten können.
Lass mich nicht allzu lange darauf warten – dieses eine Jahr ohne Dich war ohnehin schon viel zu lang.
Deine Jane
Die zwei Gesichter der Rose
(Rosa x odorata var. pseudoindica)
(Fortune’s Double Yellow – Jaune Aurore de Fortune – Gold of Ophir)
Rose, gelb. Schwinden der Liebe. Eifersucht. Untreue.
Rose, rosafarben. Geheime Liebe.
Flora Greensleeves, The Language of Flowers, London, 1837
Die einzig wahre Entdeckungsreise, die einzige Quelle ewiger Jugend wäre nicht, fremde Länder zu besuchen, sondern einen anderen Blick zu besitzen. Das Universum durch die Augen eines anderen zu erblicken, von hundert anderen. Die hundert Universen zu erblicken, die jeder einzelne von ihnen erblickt – die jeder einzelne von ihnen ist.
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit,
Bd. 5: Die Gefangene, 1923
Sommer.
Janes liebste Jahreszeit.
Ein Traumsommer ist es dieses Jahr. Zu heiß, zu trocken, klagen die Bauern und Gärtner, nachdem schon der Frühling so wenig Regen gebracht hatte.
Jane freut sich über diesen Sommer, auch wenn sie morgens und abends den Garten reichlich gießen muss. An der Sonne erfreut sie sich, am fast unwirklich blauen Himmel und an der Wärme, die auch noch die duftenden Abende füllt.
Es gibt nichts Herrlicheres, als diesen Sommer durch die Sinne von gleich zwei Kindern zu erleben.
Oft gehen sie zum Bach hinunter, wo die beiden Papierschiffchen schwimmen lassen und nach Herzenslust planschen.
Die Bäuche voll mit Kirschen und Keksen, schlafen sie danach im sonnengefleckten Halbschatten ein, John auf Janes Schoß, Helen auf der Decke an sie gekuschelt.
Über Felder und Weiden wandern sie, und Jane erklärt ihnen, wo ihr Brot herkommt, die Milch und das Fleisch.
Helen ist überglücklich, als sie im Wechsel mit John eine Kuh tätscheln und beim Bauern die neugeborenen Ferkel anschauen darf, und jeden Tag stehen frische Wiesenblumen in einem Krug auf dem Küchentisch und in einem Wasserglas auf dem Kaminsims.
Viel Zeit verbringen sie auch im Garten, der in voller Blüte steht. Während sie ein Auge auf die spielenden Kinder hat, hängt Jane die Wäsche auf oder palt Erbsen für das Abendessen.
Es sind die Nächte, die ihr zu schaffen machen.
Die Nächte, in denen es zu heiß ist, um zu schlafen. Wenn ihre Schenkel aneinanderkleben, sich Schweiß unter ihren Achseln sammelt und das Haar im Nacken und an den Schläfen feucht ist.
Dann ist ihr danach, den dünnen Baumwollstoff ihres Nachthemds abzustreifen und die glühende Haut auf den Laken zu kühlen.
Sie wagt es nicht.
Nicht nur, weil es schamlos wäre, sie vielleicht mitten in der Nacht in aller Eile aufstehen und nach den Kindern sehen muss, die ebenfalls schlecht schlafen und quengelig sind.
Verrucht kommt es ihr vor. Als würde sie das Unheil geradezu einladen.
Verlockend bleibt es trotzdem, eine unerfüllte Sehnsucht.
Lässt sie die Fenster offen, dann ist es so, als würde sie das Böse damit hereinbitten. Obwohl sie weiß, dass in Chiswick nie etwas Schlimmes passiert, die Nachbarn in Hörweite sind, ist ihr bewusst, wie schutzlos sie hier mit den Kindern ist. Ohne einen Mann im Haus.
Jane wartet.
Auf Nachricht von Robert.
Auf seine Rückkehr.
Obwohl sie weiß, dass es dafür noch zu früh ist, malt sie sich wieder und wieder aus, wie es wäre, käme er jetzt den Pfad zum Cottage herauf. Müde und staubig nach der langen Reise, von einem Ende der Welt zum anderen, aber unversehrt.
Endlich zu Hause. Endlich wieder bei ihr.
Jeden einzelnen Tag wartet sie darauf, und so viele Nächte in diesem Sommer.
40
Ningbo, 6. Juli 1844
Herrlichstes Sommerwetter. Heiß, um die 80 Grad Fahrenheit.
Heute vor einem Jahr habe ich in Hongkong chinesischen Boden betreten.
Heute oder irgendwann in den nächsten Tagen hätte ich wieder in Hongkong sein sollen. In einem anderen Hafen, an Bord eines Schiffes unter englischer Flagge.
Stattdessen habe ich mich in die Hände des Schicksals begeben, mit ungewissem Ausgang.