Eine junge Frau lernte er kennen, die keinen Hang zur Romantik besaß. Einen solchen vielleicht auch vor langer Zeit schon abgelegt hatte, weil ihr Wesen zu vernünftig dafür war, zu praktisch veranlagt. Wie eine Erlösung empfand er es, ein weibliches Gegenüber zu haben, das keinen Sinn für dieses Spiel von Koketterie und Liebeswerben hatte, dessen Grundzüge allein ihm schon unverständlich und unsinnig vorkamen.
Genauso vernünftig, genauso praktisch sprachen sie über die Zukunft, über das Heiraten. Warum auch nicht, es war das Naheliegendste. Obwohl eine Entscheidung von solchem Gewicht, solcher Bedeutung wohl überlegt und sorgsam abgewogen sein wollte.
Fortunes Welt war eine Welt der Ordnung. Der Systematik. Als Kind hatte er in Gedanken eine Liste seiner wenigen Spielsachen geführt. Später schrieb er Listen der Bücher, die er las, und Listen mit den Namen seiner Kollegen im Botanischen Garten, nach Aufgaben, Verantwortungsbereich und Entscheidungsgewalt geordnet.
Auch bei Jane erstellte er eine Liste. Mit zwei Spalten: was für und was gegen eine Heirat sprach. Die Seite mit den Argumenten dafür fiel eindeutig länger aus.
Also fragte er sie, ob sie seine Frau werden wollte, wie es von ihm erwartet wurde.
Manchmal, wenn Wang die halbe Nacht fortblieb, um Geld unter die Singsong-Mädchen der Stadt zu bringen, rief Fortune die Erinnerung an Jane wach.
Wie die Landschaft Berwickshires war Jane: weite Ebenen hinter den Salzmarschen, zwischen sanften Hügeln und Tälern und manchmal schroffen Winkeln, unverstellt, offen und ehrlich. Weicher geworden war sie jetzt, nach den beiden Kindern, lieblicher, wie das Weideland um Chiswick.
Getröstet fühlte er sich jedes Mal danach, aber auch beschämt.
So beschämt wie bei den Bildern von Lian und Yun, die sich ihm ungebeten aufdrängten. In Fortunes mangelhafter Vorstellungskraft trug Yun die feinen Züge eines Hoshang Bo, ergänzt um glutvolle Augen. Sehnig und muskulös, flog dieser erdachte Yun durch die Lüfte wie ein Raubtier im Sprung und eroberte Frauenherzen mal mit seinem herrischen Wesen, mal mit maskulinem Charme.
Fortunes Kiefermuskeln spannten sich an, und unwillkürlich zerrte er an den Zweigen der Rosen, fast schon grob.
Ein Schatten lag auf Lian, seit Tiantung. Der Schatten der Erinnerung an ihr Kloster, wie Fortune vermutete. An eine verbotene, zur Gänze ausgekostete und verlorene Liebe. Die Erinnerung an eine Leidenschaft, die so hoch aufloderte, dass sie sich selbst verzehrte und nichts als Rauch und Asche übrig ließ.
Etwas, das ihm selbst fremd war, und dieses eine Mal war er froh um einen solchen Mangel. Zu unberechenbar erschien ihm ein solcher Gefühlssturm. Wirklichkeitsfremd und geradezu zerstörerisch, am Rande des Wahnsinns. Dankbar war er, aus einem anderen, nüchterneren Holz geschnitzt zu sein.
Lians Lachen kam ihm in den Sinn, auf jener Lichtung in Zhoushan.
Dieses Lachen, das mit einer unvermuteten Fröhlichkeit, einer unerwarteten Lebenslust aus ihr hervorbrach, sodass er gar nicht anders konnte, als mitzulachen. Über diese aus der Ferne so merkwürdig anmutende Vorstellungen, die man in seiner Heimat pflegte. Genauso merkwürdig wie vieles, was ihm in China begegnet war, an das er sich schließlich gewöhnt hatte, bis er es irgendwann gar nicht mehr als merkwürdig empfand.
Ein Lachen, das aus ihrem Gesicht eine strahlende Sonne machte, sie auch dann noch leuchtend zurückließ, als ihr Lachen längst verstummt war. Ein Glanz, der das burschikose, amazonenhafte Mädchen mit der Sinnlichkeit einer erwachsenen Frau überblendete, die Augen schimmernd wie dunkle Perlen.
Fortune erinnerte sich lebhaft an Lians Hand in seiner, in Tiantung, am Ufer des Sees.
Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch, wich Unbehagen. Schuldgefühle durchfluteten ihn, dabei hatte er doch nichts Schändliches getan, noch nicht einmal etwas Verwerfliches gedacht.
Trotzdem haderte er damit, dass er Lian von Jane erzählt hatte. Oder nicht früher von ihr erzählt hatte.
Mit seinem Brief an Jane haderte er, dessen Worte ihm im Rückblick ungenügend vorkamen. Er konnte nur hoffen, sie würde verstehen, warum er noch bleiben musste. Gewiss würde sie das; Jane war stark, sie kam zurecht ohne ihn, sonst wäre er niemals nach China aufgebrochen.
Mit hochgezogenen Schultern bückte Fortune sich tiefer über die Rosensträucher. In dem elenden Gefühl gefangen, gleich zwei Frauen verletzt zu haben. Beiden untreu geworden zu sein.
Jane schon in den Augenblicken, in denen er das Angebot der Society annahm, seine Angelegenheiten regelte und seine Siebensachen packte. Lian hingegen in all den Monaten, in denen er sie sich vertraut machte, ohne böse Absicht, noch nicht einmal mit Hintergedanken.
Er zwang sich an Jane zu denken. An Jane und die Kinder, der Anker, der ihn an sein Zuhause band, an England. Länger und länger war das Tau dieses Ankers im Lauf der Zeit geworden, und anstatt sich straff zu spannen, schien es nachzugeben, schlaff zu werden.
Doch noch hielt es.
Noch.
Reglos harrt Jane im Sessel aus.
Immer noch. Obwohl ihr Besuch bereits vor geraumer Zeit gegangen ist; sie weiß nicht, wie lange das schon her ist.
Wie durch ein Federbett gedämpft, hört sie die Stimmen von Helen und John nebenan.
Sie hat die Kinder zum Spielen in ihr Zimmer geschickt, nachdem John Lindley auf der Türschwelle des kleinen Cottage erschienen war, an diesem glühend heißen Tag Ende August.
Sie sollte nach ihnen sehen.
Sie kann nicht.
Ihre Hände liegen wie Bleigewichte im Schoß, ihre Beine scheinen zentnerschwer zu sein.
Mr Lindleys Miene hatte schlimmste Befürchtungen geweckt; eine Angst, die sich tief in ihre Brust grub. Seine hastige Erklärung – sie solle sich nicht sorgen, Mr Fortune sei wohlauf, er selbst sei aus anderen Gründen hier –, konnte sie nur halb beruhigen. Sichtlich unwohl hat er sich gefühlt.
Sie hat Tee gemacht, wie man es als gute Gastgeberin tut. Um in der Routine vertrauter Handgriffe Halt zu finden. Durchzuatmen.
Sich den unangenehmen Nachrichten zu stellen, die Mr Lindley zweifellos mitbrachte.
In beiden Tassen blieb der Tee unberührt, erkaltete.
Robert wird dieses Jahr nicht mehr nach Hause kommen. Erst im nächsten Jahr, vielleicht auch in dem darauf.
Zu bedeutsam ist die Entdeckung, die er in China gemacht hat.
Ein Meilenstein. Nicht nur für die Botanik. Sondern für England und das gesamte Britische Empire, in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht.
Eine Entdeckung, die möglicherweise den Lauf der Welt verändern wird.
Mehr konnte John Lindley ihr nicht sagen. Aus Gründen der Geheimhaltung. Eine heikle Angelegenheit, sowohl auf wissenschaftlicher wie diplomatischer Ebene.
Er wird auch Robert anweisen, in seinen Briefen an sie dazu nicht näher ins Detail zu gehen, das verstehe sie sicher. Allerdings soll sie nicht damit rechnen, viel von ihm zu hören; er wird in sehr entlegenen Gegenden unterwegs sein.
Jane hat das Gefühl, sie ist die letzte Person auf englischem Boden, die eingeweiht wird. Verschwommen hat sie wahrgenommen, wie John Lindley ihr die weitere Zahlung von Roberts Salär zusicherte. Sich danach erkundigte, ob sie noch etwas brauche, er etwas für sie tun könne.
Mechanisch hat Jane mal genickt, mal den Kopf geschüttelt, je nachdem.
Nur dass sie stolz auf ihren Mann sein könne, ja sogar müsse – das hat sie deutlich gehört.
Als ob sie das nicht wüsste.