Ein Fremder, der Fortune war und doch ein anderer Mann. Eine verwirrende Erscheinung, weil ich diese Veränderung ebenso bedauerte wie mich sein Anblick – teils chinesisch, teils englisch, teils vertraut, teils neu und fremd – betörte.
Der durchdringende Blick seiner schmalen, schrägen Augen flackerte, ließ den alten Fortune hervorblitzen.
»Nicht gut?«
Ich schlug die Augen nieder und griff nach der Schüssel.
»Wie ein Mongole.«
Draußen stellte ich die geleerte Schüssel ab und stützte mich auf den Rand des Brunnens.
Schwach war ich auf den Beinen, unruhig im Herzen.
Ich hatte nicht geglaubt, jemals wieder so etwas zu empfinden. Nie auch nur einen Gedanken daran verschwendet.
Nicht nach Yun.
Ein grenzenloses Staunen füllte mich aus, über das, was mit mir passiert war, irgendwann in den letzten Wochen, den vergangenen Monaten. Eine fast vergessene Art von Glück. Durchfärbt mit den Schattierungen von Traurigkeit, einem Gefühl von Vergeblichkeit.
Ich wusste nicht, was ich jetzt tun sollte.
Aus der Ferne sah ich Wang heranwatscheln, ein Huhn am schlaffen Hals in der Hand schlenkernd.
Ich winkte ihm zu, winkte ihn dann zu mir heran.
»Wie ist Fu-Chung als Chinamann?«, begrüßte er mich mit einem breiten Grinsen, mit einem Blick zum Haus hin. »Gut?«
Ich packte Wang beim Ärmel und zog ihn in den Schatten hinter der Hausecke.
Sein Grinsen vertiefte sich, bekam etwas Anzügliches. »Aber, Lian … Gleich so stürmisch?«
Ich versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter, den er mit einem gekränkten Gesichtsausdruck quittierte.
»Wann brecht ihr nach Putuoshan auf?«
Östlich von Zhoushan gelegen, nur ein paar Stunden mit dem Boot davon entfernt, war Putuoshan eine Insel der Tempel und Mönche. Einer der vier Heiligen Berge Buddhas, und der einzige, der für mich als Frau verboten war.
»Sobald ich weiß, ob diese Tarnung etwas taugt. Ob Fu-Chung sich glaubhaft als Mann von der Großen Mauer ausgeben kann. In den nächsten Tagen, nehme ich an.«
Ein großer Teil seiner Lächerlichkeit fiel von ihm ab, sobald er in unsere gemeinsame Sprache überwechselte und in ganzen Sätzen sprach. Als hätte er sich dazu noch eine Maske vom Gesicht gerissen, wirkten seine Züge auch gleich weniger grotesk.
Ich zögerte ein, zwei Herzschläge lang. Obwohl ich meine Wahl doch bereits getroffen hatte.
»Wenn ihr danach zurückkommt, werde ich nicht mehr hier sein.«
Wangs Brauen schnellten nach oben. »Du kommst nicht mit nach Anhui? Ich habe es vielleicht nicht eigens erwähnt … aber du kannst gerne mitkommen. Du bist im Heim meiner Familie ebenso willkommen wie Fu-Chung.«
Als ich den Kopf schüttelte, blitzte es in seinen Augen auf.
»Haben sie ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt – damals in Anhui?«
Ich wusste nicht, wann ich in Wangs Gegenwart offenbar in den Zungenschlag meiner Kindheit zurückgefallen war; es überraschte mich, dass es ihm aufgefallen war.
»Nein.«
»Du wirst dich aber von Fu-Chung verabschieden.«
»Auch das nicht.«
Er sah zum Haus hin und verzog das Gesicht. »Das wird Fu-Chung aber ganz und gar nicht gefallen … Was soll ich ihm denn sagen?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich.
Wangs Augen richteten sich auf mich, still und mit einer unvermuteten Tiefe. Als ob er begriff.
Trotzig hielt ich seinem Blick stand. Bereit, ihm sofort über den Mund zu fahren, sollte ihm eine derbe Bemerkung dazu einfallen oder ein dummer Scherz.
Er blieb stumm, ein Schimmern in den Augen, das mitfühlend wirkte, beinahe weich.
Möglich, dass ich mich in ihm getäuscht hatte. Vielleicht war er von wacherem Geist, schärferem Verstand als gedacht, wohl verborgen hinter seiner zur Schau gestellten Trotteligkeit, seiner halsstarrigen Überheblichkeit.
Seine eigene listige Tarnung. Sein Schwert, um sich durch dieses Leben zu kämpfen.
»Wohin wirst du gehen?«
Ich blinzelte in den Himmel, zuckte mit den Schultern.
»Falls du es dir anders überlegst …«
»Werde ich nicht.«
Er kniff ein Auge zusammen, sah mich schelmisch mit dem anderen an.
»In Jiangnan. Keine zwei li vom Sungloshan entfernt. Vergiss das nicht. – Dann schaue ich mir mal meinen neuen Herrn an.«
Noch auf der Schwelle stieß er einen Schrei des Entzückens aus.
Vielleicht war es Absicht, vielleicht eine Nachlässigkeit, dass er die Tür aufließ und ich das Geschnatter in Pidgin hören konnte, mit dem er Fortune überschüttete.
Braucht neuer Name, für neuen Fu-Chung. Besserer Name. Muss sein wie … Ah, Wang hat! Herr muss Xinghua heißen!
Sing … wah, versuchte Fortune ihn nachzuahmen.
Leuchtende Blume.
Ich schüttelte den Kopf und lächelte in mich hinein.
»Xingyun«, murmelte ich, ein wehes Gefühl im Herzen.
Glück.
Wind kam auf, wie so oft hier draußen, gegen Abend.
Ich hielt das Gesicht in diesen Wind, der nach der Weite der Reisfelder roch und nach dem Stein der Berge. Nach Freiheit und Einsamkeit roch er und kitzelte verlangend in meinem Bauch.
Ich war viel zu lange geblieben.
45
Still war das kleine Haus ohne die beiden Männer.
Still und traurig. Wie ich.
Ich wartete, bis es dunkel wurde. Die Nacht hatte etwas, das Abschiede leichter machte.
Bis zuletzt hatte Fortune keinen Verdacht geschöpft. Obwohl ich seine beharrlichen Nachfragen, ob ich nicht wenigstens nach Zhoushan mitkommen wolle, genauso beharrlich abgelehnt hatte.
Seine Arglosigkeit hatte mir ins Herz geschnitten. Wie er mich angelächelt hatte, als er sich von mir verabschiedete, bevor er mit Wang davonging, einen scheuen Glanz in den Augen.
Ich drückte seine dicke Jacke, die er über den Winter getragen und mit seinen anderen Sachen hiergelassen hatte, an mich. Strich über den groben Stoff, der an vielen Stellen abgeschabt war. Der Risse bekommen hatte und Flecken und nicht nur gut roch. Nach altem Schweiß, ranzigem Fett, Unrat. Aber auch nach Salz und Erde und Stein und Fortune.
Ich versuchte mir seine Frau vorzustellen. Diese Frau mit Augen von dunklem Blau und braunem Haar. Blass war sie bestimmt, wie die meisten Menschen von dort. Und hübsch. Kein Mann, der einen solchen Sinn für die Schönheit der Natur besaß wie Fortune, konnte eine Frau heiraten, die nicht hübsch war.
Nicht wie eine mudan. Wie Pfirsichblüten. Sondern wie die kleinen Wiesenblumen, denen er besondere Zuneigung entgegenbrachte. So stellte ich mir diese Frau vor, die sein Leben teilte, am anderen Ende der Welt. Die schon so lange auf ihn wartete und nun noch länger auf ihn warten musste.
Teilte sie seine Liebe zu den Blumen, seinen Sinn für deren Schönheit? Oder war sie ganz anders als er, lebhaft, gesellig und redselig? Eher klug oder von schlichtem Gemüt? Eine Frau von starkem Wesen, eine eigenständige Person? Oder doch nur der Schatten ihres Mannes, der sie allein gelassen hatte, um die Blumen Chinas zu erforschen? Bestimmt eine Frau, die gut kochen konnte und wusste, wie man ein Haus führte, ob allein oder mit Bediensteten. Wie man ein solches Haus zu einem Heim machte, in dem ein Mann wie Fortune sich wohl fühlte.
Auch die zwei Kinder versuchte ich mir vorzustellen, die sie zusammen hervorgebracht hatten. Blauäugige Kinder mit weißer Haut, vielleicht bleichem Haar. Was für ein Vater Fortune wohl sein mochte. Sicher ein guter, ein liebbevoller Vater und nur manchmal streng, zumindest hoffte ich das. Wie ich mir wünschte, dass er sich über die Geburt seiner Tochter ebenso gefreut hatte wie über die seines Sohnes.
Aufdringlich kam ich mir vor, während ich mir Fortunes Alltag in England ausmalte, mit seiner Frau, seinen Kindern. Wie ein Spanner, und genauso erregt war ich von den vielen Leben Fortunes, die sich vor meinem inneren Auge entfalteten. Von denen keines meinem eigenen auch nur ähnelte.