In der ersten Zeit meiner Wanderschaft hatte ich gehofft, ein Kind von Yun in mir zu tragen. Damit mir etwas blieb. Von ihm. Von uns. Ich etwas Eigenes hatte, für mich allein.
Ein Segen, dass es kein Kind gegeben hatte. Mein Leben war nicht geeignet, um ein Kind großzuziehen.
Als die Nacht behäbig in die Stunde des Ochsen trottete, legte ich die Jacke zurück und schloss die Tür hinter mir.
Ich lief schnell, obwohl ich keine Eile hatte. Als ob ich fürchten müsste, mich anders zu besinnen, wenn ich einen Schritt zu langsam war.
Es war besser, wenn er nie erfuhr, was ich getan hatte.
Nie davon erfuhr, was ich fühlte.
Die Nacht wich gerade der Dämmerung, als ich im Hafen von Ningbo ankam.
Suchend ließ ich meine Blicke über die Schiffe schweifen, die vor Anker lagen. Bis ich einen Lastkahn entdeckte, unter seinen Fächersegeln bereits ungeduldig an den Tauen ruckend, die die Männer gerade eines nach dem anderen lösten.
»Heda, Seemann! Wohin fahrt ihr?«
Der drahtige Matrose, gerade erst vom Burschen zum Mann gereift, sah überrascht auf.
»Nach Süden. Nach Heunggong und danach weiter nach Zhanjiang. Der alte Seidenhafen, an der Küste der Walfische und der wilden Winde. Warum fragst du?«
Mein Herz schlug schneller. Zhanjiang. So weit im Süden war ich noch nie gewesen. Ich drehte mich halb um und wies auf Long Yuan auf meinem Rücken.
»Habt ihr noch Platz für eine jianghu?«
Er deutete einen höflichen Gruß an, bevor er mir seine Hand entgegenstreckte.
»Aber immer!«
Jane ist das Los zugefallen, Roberts Eltern in einem Brief darüber in Kenntnis zu setzen, dass er einstweilen in der Fremde bleiben wird. Und da sie schon einmal dabei ist, auch ihre eigenen Eltern.
Mehrere Anläufe benötigt sie dafür und ertappt sich selbst dabei, wie sie die Bedeutung von Roberts geheimer Aufgabe doppelt und dreifach herausstreicht. Wie entschuldigend und kleinlaut sie doch in diesen Briefen klingt.
Jetzt schon fürchtet sie die Antworten auf diese Nachricht, die unweigerlich folgen werden. Sie solle doch nach Hause kommen, wird darin stehen. Vielleicht als Einladung abgefasst oder als Bitte, vielleicht auch als Aufforderung.
Voller Scham senkt Jane den Kopf über diesen Briefen.
Als ob sie als Ehefrau versagt hat.
Als ob es ihre Schuld wäre, dass Robert länger fortbleibt als ursprünglich geplant.
Sie meidet die Blicke der Leute im Dorf, die unverhohlen neugierig ausfallen.
Es hat sich herumgesprochen, dass Robert Fortune einstweilen nicht aus China zurückkehren wird. Nur nicht, warum.
Manchmal glaubt sie gar einen Vorwurf in diesen Blicken zu entdecken: dass sie immer noch hier ist, allein, in ihrem Cottage, mit den Kindern. Anstatt bei Eltern, anderen Verwandten oder Freunden unterzukommen, wie es sich gehört.
Unwillkürlich strafft Jane dann jedes Mal die Schultern, packt Helen und John fester bei den Händen und reckt ihr Kinn hoch.
Obwohl sie sich gar nicht stark fühlt. Nicht rebellisch.
Oft denkt sie dann darüber nach, Chiswick tatsächlich zu verlassen. Nach Schottland zurückzugehen.
Nicht zu ihren Eltern oder zu denen von Robert, auf keinen Fall; dazu ist sie es zu sehr gewohnt, ihre eigene Herrin zu sein. In eigenen vier und dazu noch großzügig bemessenen Wänden.
Eine zweite Miete gibt Roberts Salär jedoch nicht her. Sie würde dieses Cottage hier aufgeben müssen.
Das Herz wird ihr schwer, während sie sich im Garten umsieht, der mit den Kräutern und Blumen und den Gemüsebeeten fast ausschließlich ihr Werk ist.
Schließlich entscheidet sie sich dagegen. Sollen die Leute hier im Dorf sich die Mäuler zerreißen – Robert braucht doch ein Zuhause, wenn er wiederkommt.
Als wäre das Cottage mit ihr und den Kindern das einzige Leuchtfeuer in einem weiten, nächtlichen Ozean, der ihm den Weg nach Hause weisen kann.
Niemand denkt an sie, Jane. An die daheimgebliebene Ehefrau.
Auch sie selbst nicht.
Als würde sie das Schicksal herausfordern, entwirft sie auch nur in Gedanken grobe Skizzen für ein Leben ohne Robert. Selbst für eine begrenzte Zeit.
Dies ist nicht das Leben, das sie im Sinn gehabt hat, als sie heiratete.
Dies ist nicht die Art von Ehe, die sie jemals führen wollte.
46
Dinghai (Tinghae), Insel von Zhoushan, August 1844
Singwah. Mein neuer Name. Ein neues Leben – zumindest dem äußeren Anschein nach: Ich bin jetzt ein reicher und wichtiger Mann aus dem höchsten Norden, von der Großen Mauer kommend. Offenbar reichen hier die Begriffe reich und wichtig aus, um jedes weitere Nachfragen auf der Stelle zu unterbinden.
Mir ist manchmal kalt am Kopf, und an den Zopf habe ich mich noch nicht vollständig gewöhnt, er erweist sich zuweilen als hinderlich. Die Kleidung indes – eine weite Hose und ein loses Gewand darüber – trägt sich sehr angenehm.
Ich bin selbst erstaunt, wie einfach sich die Verwandlung von fremdländischem Barbar zu chinesischem Edelmann gestaltet hat. Obwohl ich vorsichtshalber hier in Dinghai ein anderes Quartier bezogen habe als in der Herberge zur Königlichen Orchidee die letzten beiden Male.
Anscheinend genügen nur wenige Attribute, um einen Menschen auf den ersten Blick einer bestimmten Herkunft zuzuordnen. Wie der Zopf, die Rasur des übrigen Schädels und entsprechende Kleidung. Heute ging sogar ein Europäer an mir vorüber – grußlos, er warf mir lediglich einen verächtlichen Blick zu.
Ein merkwürdiges Gefühl, fast mühelos die Seiten gewechselt zu haben. Und obwohl ich noch derselbe bin wie gestern oder vor ein paar Tagen, so kommt es mir vor, als ob … Schwer zu beschreiben. Manchmal scheint es mir mehr als eine Maskerade zu sein.
Heute Nacht setzen wir auf die heilige Insel Putosan (Potuoshan?) über und werden sie bei Sonnenaufgang erreichen.
Ningbo, Anfang September
Temperatur zwischen 70 und 80 Grad Fahrenheit max.
Heute zu den Mandaringärten.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Päonien, Gardenien, Kamelien und Chrysanthemen reckten Fortune ihre prächtigen Blüten entgegen, wie im Wettstreit um seine Aufmerksamkeit. Selbst die winzigen Pagoden der klein gehaltenen Wacholderbäumchen in ihren Porzellanschalen, ihren Steingärtchen und Moosbettchen, schienen sich bemerkbar machen zu wollen.
Fortunes Blick wanderte über die Blumenpracht, die ihn von allen Seiten umgab. Seine Augen sahen die Schönheit dieses Gartens am Stadtrand von Ningbo, aber sie erreichte ihn nicht.
Mit einem ärgerlichen Fingerschnipsen verscheuchte Wang den Gärtner, der ihnen ehrerbietig durch den Garten folgte, und schielte Fortune von unten herauf an.
»Nicht gut hier?«
Fortune schwieg.
Er sehnte sich auf die heilige Insel von Putuoshan zurück.
In botanischer Hinsicht war diese Exkursion eine Enttäuschung gewesen. Die Insel hatte nichts vorzuweisen, was er nicht schon in China gesehen und gesammelt hatte, sowohl wildwachsend als auch in den Gärtchen der blumenliebenden Mönche.
Es war der eigentümliche Zauber der Insel, der Fortune gefangen genommen hatte. Als wäre er selbst auf Miniaturgröße geschrumpft und durchwanderte eine dieser winzigen Landschaften, eingebettet in eine flache Schale aus Porzellan. Anmutig schmiegten sich die Tempel und Torbögen in Steinwände und die verwunschenen Wälder, kunstvoll schraubten sich Treppen durch Felsen in die Höhe. Wie ein Feenreich wirkte der Teich, auf dem die roten und weißen Blüten von Nelumbium speciosum schwammen – der Lotos, die heilige Blume Buddhas, von dem die Mönche erzählten, dass man Teile davon auch essen könne und sie als Delikatesse galten.