Die Stimmen überschlugen sich, laut und giftig, durchsetzt von hässlichem Gelächter. Geräusche von Hieben, von Tritten. Hastig aus-gestoßene Rufe, die über ihm zerfaserten, und er konnte plötzlich wieder atmen.
Langsam hob er den Kopf und blinzelte.
Bergab rannten sie davon, als wäre ein Teufel hinter ihnen her; einer humpelte, stolperte mehr, als dass er lief, und hielt seinen Arm; ein zweiter ließ in der Eile seinen Stock fallen und hob ihn ungeschickt wieder auf.
Fortune rappelte sich hoch, betastete Arme und Beine und Rippen. Der Saum seiner Jacke war ausgerissen, in seiner Hose klaffte ein Loch. Überall pochte und brannte es, aber mehr als blaue Flecken und Schürfwunden hatte er wohl nicht davongetragen.
Fahrig klaubte er die Münzen aus Kupfer und Silber vom Boden, sah sich währenddessen vorsichtig um, immer noch auf der Hut.
Ein Schatten zeichnete sich gegen die Sonne ab. Kraftvoll und leichtfüßig tänzelte er über die Felsen, zur Pagode hinauf, den Umriss eines Schwerts auf dem Rücken wie der schmale Flügel eines zerrauften Engels.
Scham durchglühte ihn, mischte sich mit Erleichterung. Mit Dankbarkeit.
mh goi. Danke.
Beim nächsten Sprung peitschte der geflochtene Zopf durch die Luft, und das Sonnenlicht flackerte für einen kurzen, flüchtigen Augenblick über die Züge des Schwertkämpfers. Weich sahen sie aus, fast feminin.
Wie das Gesicht eines Mädchens.
Tagsüber vergisst Jane oft, dass er nicht hier ist.
An diesen Tagen, die kürzer und kürzer werden.
Noch sind diese Tage kupferfarben und golden. Aber unter dem Nebel, der sich immer häufiger niederlässt, breitet sich schon stumpfes Braun aus.
Mehr und mehr muss sie sich beeilen, kein kostbares Tageslicht zu verschwenden. Wenn sie im Gärtchen werkelt, das zum gemieteten Haus gehört, Obst und Gemüse einkocht. Im Haus putzt und wischt und die Wäsche macht. Kleidchen und kleine Mäntel für den kommenden Winter näht.
Es sind die Abende, an denen er fehlt.
In der Küche, wenn sie nur für sich und Helen Essen macht und nicht für drei. Sobald Helen endlich neben ihrem Brüderchen eingeschlafen ist, das morgens und abends noch die Brust bekommt, und Jane dann am Kamin sitzt.
Während ihre Finger im Schein des Feuers und einer Lampe damit beschäftigt sind, ein neues Jäckchen für John zu stricken, ist sie sich des leeren zweiten Sessels bewusst.
Kein Robert, der die Beine von sich streckt und über einer Tasse Tee gedankenverloren in die Flammen schaut. In einem Buch liest. Ihr leise von Blumen mit fremdartigen Namen erzählt. Blumen, die sie sich nur vage vorstellen kann, wenn er sie beschreibt. In sorgsam abgewogenen Worten, immer noch mit dem dunklen, vollmundigen Akzent der schottischen Heimat. War der Arbeitstag besonders hart, nickt er irgendwann ein.
Eine stille, starke Präsenz ging immer von ihm aus. Ein Kraftfeld, fast zu groß für das kleine Cottage, das in Schieflage zu geraten scheint, seit er fort ist, die Proportionen der Räume, der Möbel wie verschoben.
Manchmal holt sie die Kinder zu sich ins Bett, wenn sie sich schlafen legt.
In dieser Zeit bei ihren Eltern unterkommen, wie es üblich gewesen wäre und vielleicht auch einfacher – das wollte sie nicht. Sie wollte nicht zurück in die ärmliche Enge mit den verrußten Wänden und dem Kohlgeruch.
Sie ist froh, es dort heraus geschafft zu haben. Von der Tochter eines Knechts zum Dienstmädchen in Edinburgh, und schließlich hierher, in dieses hübsche Häuschen in Chiswick.
Mehr, als ihre beiden Schwestern erreicht haben. Mehr als die anderen Mädchen im Dorf.
Jane kettelt die letzte Reihe des Halsbündchens ab und wandert mit den Gedanken in die Ferne.
China.
Genauso gut hätten sie ihn zum Mond schicken können.
Und alles nur wegen ein paar Pflanzen. Die keinen weiteren Zweck erfüllen, als hübsch auszusehen. Die sicher schwierig zu halten sind.
Männer sind es, die neue Pflanzen entdecken und züchten, kategorisieren und benennen. Ein Männerberuf ist es, Gärten anzulegen, die die noble Eleganz von Herrenhäusern noch unterstreichen. Die das Auge erfreuen und die Seele beflügeln.
Unpraktische und nutzlose Allüren, typisch für Männer und feine Ladys, die sonst nichts zu tun haben. Die sich keine Gedanken machen müssen, wovon ihre Kinder satt werden.
Mit einem energischen Schnippen schneidet sie den Faden ab.
Trotzdem ist Jane stolz, einen Mann mit diesem Beruf geheiratet zu haben. Einen Künstler, der leeren Raum gestaltet, indem er aus vergänglichen Materialien lebendige Werke erschafft. Der Bücher liest und Latein und Griechisch beherrscht. Ihr gemeinsames Brot mit ehrlicher Arbeit verdient. In einem Beruf, der mehr Ansehen genießt als der eines Knechts, eines Heckengärtners. In dem mehr Geld zu machen ist.
Genauso stolz ist sie auf ihr eigenes Gärtchen. In dem sie im Frühsommer ihre eigenen Erdbeeren ernten kann und später im Jahr Brombeeren und grüne Bohnen und in der Zeit dazwischen Radieschen. Ein Frauengarten mit Veilchen und Ringelblumen, Löwenmäulchen und Flieder, Salbei, Kamille und Petersilie. Robuste Pflanzen, die wenig Arbeit machen und nützlich sind.
Männer erkunden und gestalten die Welt. Frauen nähren und kleiden.
Das ist die gottgewollte Ordnung.
Sie streicht das fertige Rückenteil glatt; dämpfen und zum Jäckchen zusammennähen wird sie die gestrickten Teile morgen, im Tageslicht.
Jane träumt von einem größeren Garten. Mit einem Apfel- und einem Birnbaum, vielleicht sogar einem Kirschbaum. Von eigenen Karotten und Gurken, ein paar Hühnern. Und von einem größeren Haus.
Unter der wärmenden Aussicht darauf ist schließlich ihr Widerstand gegen diese Reise geschmolzen.
Es ist ja nur für ein Jahr, sagt sie sich immer wieder.
Sie greift zu einem frischen Wollknäuel und schlägt mit dem Nadelspiel Maschen für eine Socke an.
Robert wird neue brauchen, wenn er erst wieder hier ist.
4
Sonntag, 8. Oktober 1843
Morgens dunstig bis neblig, gegen Mittag aufklarend. Maximum: 73 Grad Fahrenheit. Minimum: 66 Grad.
Ankunft in Chusan, nach 10 Tagen auf dem Schiff – und hoch erfreut über die Veränderung der Landschaft. Der erste Blick auf die Vegetation hat mich überzeugt: Hier befindet sich mein zukünftiges Betätigungsfeld! Keine kahlen, öden Hügel wie in Hongkong oder Chimoo, sondern entweder kultiviert oder von kräftigem Gras, Bäumen und Sträuchern bewachsen.
Würde unsere Insel von Hongkong die naturgegebenen Vorzüge und Schönheiten Chusans besitzen – welch prächtigen Ort könnten unsere geschäftstüchtigen englischen Händler in nur wenigen Jahren daraus machen!
Ich hege keine Zweifel, dass meine Mission sich hier in Chusan zum Erfolg führen lässt.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Chusan war nicht der Garten Eden. Aber fast.
Schön. Robert Fortune fiel kein besseres, kein originelleres Wort dafür ein; wieder und wieder kam es ihm in den Sinn.
Schön war der Ausblick auf die vielen Inseln des Archipels im leuchtend blauen Meer. Auf die rauchblauen Silhouetten der Bergketten in der Ferne. Die fruchtbaren Täler, die sich zum Ozean hinab entrollten und in denen klare Bäche sprudelten, waren schön. Das Gras, das die Hügel bekleidete, die Bäume und das Unterholz. Die Reisfelder.