Selbst der verhätschelte jüngste Sohn, badete Wang in der Zuneigung, mit der seine Mutter ihn überschüttete. Eine winzige, rundwangige Person, die unmöglich auf ein bestimmtes Alter zu schätzen war und ganz selbstverständlich Xinghua, Wangs Freund aus der Fremde, in ihre mütterliche Fürsorge mit einschloss.
Nur dass ihr Jüngster nach diesen Jahren der Wanderschaft noch nicht verheiratet war, noch immer keinen Beitrag zu ihrer ständig wachsenden Enkelschar geleistet hatte, gab ihr Anlass zur Sorge. Eine fast täglich vorgebrachte Klage, die Wang in unbeholfen ruppigen Worten und mit eingezogenem Kopf abwehrte, während seine Ohren glühten.
»Es ist nicht … das«, widersprach Fortune nach einigem Zögern.
Obwohl er manchmal an Lian dachte, in den Nächten, in denen die Geräusche eines Ehepaares irgendwo im Haus ihn wachhielten. In einer seltsamen Mischung aus Sehnen und Befremden, die er ebenso genoss, wie sie ihm unangenehm war. Bevor er seine Gedanken auf Jane lenkte, pflichtschuldigst und auf mehr als eine Art schuldbewusst.
»Was sonst?«
Fortune war kein Mann, der sein Herz auf der Zunge trug. Er hätte ohnehin keine Worte für das gefunden, was Lian ihm bedeutet hatte. Wie es war, ohne sie zu sein. Er suchte auch nicht nach solchen Worten; unsinnig schien es ihm, etwas zu bestimmen, zu benennen, das ihm durch die Finger geronnen war, noch ehe er sich dessen bewusst gewesen war, was er da in der Hand hielt.
Unter Wangs forschendem Blick schüttelte er nur den Kopf und begann mit bloßen Händen die Lilie auszugraben. Obwohl er nicht wusste, ob diese eine Chance haben würde, irgendwo im Haus der Wangs. Genug Licht, vielleicht im letzten Wardian Case, das ihm geblieben war, nachdem er seine gesammelten Schätze in Ningbo einem Handelsschiff anvertraut und es wie durch ein Wunder die Fahrt im Ochsenkarren heil überstanden hatte.
Sorgsam schlug Fortune den Wurzelballen in den Saum seines Gewandes ein und trug die Tigerlilie nach Hause; bestimmt wusste dort jemand, wie man sie überwinterte.
48
Ich kam niemals bis in den alten Seidenhafen von Zhanjiang. Nicht an die Küste der Walfische und der wilden Winde.
Ich ging vorher von Bord des Lastkahns. In Heunggong, das die Engländer Hongkong aussprachen.
Vielleicht aus einer Laune heraus. Vielleicht, weil der schwimmende Wald aus Schiffen vor der Küste meine Neugierde weckte. Ich war lange nicht mehr hier gewesen. Das letzte Mal vor ein paar Jahren, kurz vor dem Krieg.
Wie viele andere Menschen war ich vor dem Donner der Kanonen und ihrem tödlichen Feuer von der Küste geflohen; bereit, noch viel weiter in das Land hinein zu flüchten.
Damals war Heunggong nicht viel mehr als ein kleines Nest gewesen. Die Gewässer vor der Küste gehörten den Tanka, den Kindern der Seeschlange, die auf Booten wohnten und vom Fischfang lebten. Größere und kleinere Dörfer verteilten sich über die Insel, mit Fischern, Bauern, Arbeitern, die meisten davon Köhler, deren Meiler die Luft beizten.
Nur im Hafen war Heunggong geschäftig gewesen. Und auf dem Markt dahinter, der Ansammlung von Buden und Lädchen, zu denen sich kurz vor dem Krieg die Schuppen gesellten, in denen eine Handvoll fremder Barbaren ihre Handelswaren lagerte.
Jetzt erkannte ich Heunggong nicht wieder. Zwischen dem Meer und den Bergen, im weichen Licht wie aus dunkler Jade, war eine Stadt gewachsen. Eine fremdländische Stadt, mit großen, klobigen Häusern, über denen eine fremde Flagge wehte.
Eine Barbarenstadt, und voller Barbaren waren die Straßen.
Ein Schock war es, mit eigenen Augen zu sehen, dass die Insel jetzt ihnen gehörte, jedes Krümchen Erde, jeder Stein, jeder Tropfen Wasser. Zu sehen, dass sie nach China gekommen waren, um zu bleiben.
Ich vergaß, meinen Kopf gesenkt zu halten, zu gehen wie ein Mann. Mit aufgerissenen Augen wanderte ich durch diese neue, fremde, laute Stadt, die mich an das aufgerissene Maul eines Drachen erinnerte, gierig, angriffslustig, jederzeit willens, Feuer zu speien.
Bis es dunkel wurde irrte ich durch die Stadt.
Über dem Gestank von verrottendem Gemüse und ausgeleerten Nachttöpfen lockte mich der Geruch eines Stalls an. Über das niedrige Holztor spähte ich in das Dunkel des Verschlags, witterte den Geruch von Ziegen, hörte ihr nervöses Meckern.
Ich kletterte über das Tor und landete zwischen den Tieren, die aufgeregt durch den Stall sprangen. Murmelnd sprach ich auf sie ein, streichelte über Flanken, die mich streiften, kraulte das Fell zwischen den Hörnern, wenn mich eines der Tiere ängstlich beschnupperte, so lange, bis es sich wieder beruhigt hatte.
In einem Winkel des Verschlags bettete ich mich aufs Stroh und zog mir den Schwertgurt so zurecht, dass ich Long Yuan im Arm halten konnte, wie ich es gewohnt war. Lange lag ich so da und dachte an Fortune, bis meine Augen zufielen.
»Gut geschlafen?«
Ich fuhr hoch, blinzelte in das perlgraue Licht des Morgens.
Ein Mann grinste mich an, während er einer der Ziegen den Hals klopfte. Mit seinen übergroßen Ohren und dem wuchtigen Kiefer ähnelte er einem Marder. Schwer auf ein bestimmtes Alter zu schätzen war er, in diesem schwachen Licht; einen guten Kopf größer als ich, schien er sehnig, aber bereits füllig um die Hüften.
Mit einem Satz war ich auf den Beinen, rieb mir verstohlen den Schlaf aus den Augen.
»Habt Dank für das Nachtlager«, murmelte ich und wollte an ihm vorbeieilen.
»Nicht so schnell.«
Mit einer flinken Drehung auf dem Fußballen wich ich seiner Hand aus, meine Finger bereits um den Griff des Schwerts vor meiner Brust gelegt.
»Du schuldest mir was, Mädchen«, erklärte er in der weichen Mundart der Insel. »Für die Nacht hier.«
»Ich bin jianghu«, erklärte ich, steif vor Stolz. »Es ist Brauch, mir ein Lager für die Nacht zuzugestehen.«
»Mir ist gleich, von welchem Fluss oder von welchem See du kommst. Wenn ich eine dreckige Landstreicherin in meinem Stall schlafen lasse, will ich auch was dafür.«
Als ob ich seine Worte missverstehen könnte, unterstrich er sie mit einem auffordernden Griff in seinen Schritt.
Hinter mir drängten sich ängstlich die Ziegen zusammen, bockend und unter kläglichem Meckern; empfindsam, wie diese Tiere waren, spürten sie ebenso gut wie ich die Bedrohung, die erstickend auf ihrem sonst heimeligen Stall lastete.
Ich zog mein Schwert und ließ die Klinge von Long Yuan in ihrer ganzen Länge aufglänzen.
»Wag es nicht, mich anzufassen.«
»Pack den Zahnstocher weg, Mädchen. Sonst tust du dir noch weh. Ich versprech dir, dass du auch auf deine Kosten kommst.«
Er tat einen Schritt auf mich zu, und die Spitze von Long Yuan peitschte über sein Gesicht.
»Es ist mein Ernst. Bleib weg von mir.«
Er legte die Hand an seine Wange, nahm sie dann vom Gesicht und betrachtete das Blut darauf.
»Du Fotze«, raunte er heiser.
Ich konnte den Hass fühlen, der aus ihm hervorquoll, beißend wie die Schwaden von Essen, das schon verdorben war, bevor man es in der Pfanne verbrennen ließ.
In seiner anderen Hand blitzte etwas auf, Metall oder Glas, und sicher scharf.
Bilder flackerten vor meinen Augen vorüber, zogen als Empfindung durch meine Muskeln. Wie ich mein Schwert schwang, leicht und geschmeidig. Ein stählernes Rauchfähnchen, das durch die Luft glitt und durch den Leib dieses Mannes, durch Fleisch und Muskeln und Eingeweide schnitt.
Stattdessen steckte ich Long Yuan weg und zog es an seinem Gurt auf meinen Rücken. Tief sog ich die Luft im Stall ein, die nach Mist roch, nach Ziege und Stroh und Holz und gärendem Männerschweiß.
»Braves Mädchen.«
Eine Hand nach mir ausgestreckt, mit der anderen seine einfache Waffe angehoben, trat er einen Schritt auf mich zu.