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Wissbegierde stachelte Fortune an, ließ ihn jeden bangen Gedanken, alle Furcht vergessen.

»Ist es weit bis dorthin? «

Vater Wang schüttelte den Kopf. »Denkt nicht einmal daran, Xinghua. Das ist ein gefährlicher Weg, den nur die Mönche unbeschadet hinunter- und wieder hinaufklettern. Sie werden beschützt vor den Geistern und den Dämonen dort oben. Den Drachen.«

Fortune warf Wang einen Blick zu und wechselte zurück ins Englische.

»Hat er eben Geister und Dämonen gesagt? Drachen?«

Verlegen wandte Wang den Blick ab.

Wang senior lehnte sich vor, ein Glitzern in den Augen, das verriet, wie sehr er dieses Gespräch genoss.

»Viele, die jemals dort hinaufwollten, sind wieder umgekehrt. Nicht nur, weil der Aufstieg schwierig ist, durch Schluchten führt und an Abgründen entlang. Nicht deshalb, weil es keine Karten gibt und man darauf vertrauen muss, den Weg zum Kloster trotzdem zu finden. Es ist eine andere Welt dort oben. Dort gibt es keine Zeit. Nichts, woran die Wurzeln der Seele Halt finden. Das macht die gewöhnlichen Wanderer dort oben zur leichten Beute für dunkle Mächte. Nicht jeder, der hinaufgestiegen ist, kam auch wieder zurück. Nicht wenige sind oben verlorengegangen.«

Mit einem Nicken lehnte er sich zurück und sog an seiner Pfeife.

»Nur ein vollkommener Narr wird sich dort hochwagen. Ein Heiliger. Oder ein wahrer Held.«

Fortune war noch nicht lange genug hier, um an solche Ammenmärchen zu glauben. Durch und durch britisch fühlte er sich, während er aus den Worten von Vater Wang die Körnchen harter Fakten aussiebte.

Legenden von Drachen und Dämonen konnten ihn nicht abschrecken. Nur der Gedanke, möglicherweise zwischen Felsen abzustürzen und im Gebirge umzukommen. Beim Schmuggeln von Teepflanzen aufgegriffen und dafür mit dem Tod bestraft zu werden.

Er brauchte nicht mit leeren Händen nach England zurückzukehren; Teepflanzen oder Saatgut konnte er auch hier im Dorf bekommen, vielleicht sogar von Vater Wang. Aber er wollte nicht irgendeinen Tee.

Er wollte den besten Tee.

Nicht nur, weil die Horticultural Society danach verlangte.

Diesen Tee der Mönche aus den Bergen, dem er so nah war und ihn doch nicht erreichen konnte. Nicht ohne Karte oder auch nur eine grobe Wegbeschreibung. Ohne jemanden, der sich auskannte und ihn dort hinaufbegleitete.

Hilfesuchend wandte er sich an Wang. »Würdest du …?«

Wang zog den Kopf zwischen die Schultern.

»Geht Wang mit dir überall hin, weißt du«, kam es kleinlaut von ihm. »Aber nicht da hoch.« Er seufzte. »Brauchst du jemanden wie Lian.«

Das Schreiben der Society lag wie ein Stück Blei in seiner Hand. Fortune starrte wieder ins Feuer, heimgesucht von den Gedanken an Lian. In einem diffusen Begehren, das er mit seiner ganzen Willenskraft auf den Tee aus den Bergen lenkte, der ihm ebenso unendlich weit entfernt schien.

Wie ein Insekt kam er sich vor, das sich im Netz einer Spinne verfangen hatte. Ein Netz, gewoben aus den Erinnerungen an Jane und die Kinder, die immer blasser wurden, je länger er hier war. Gesponnen aus den Eindrücken, die Lian hinterlassen hatte, noch frisch, lebendig und sinnenhaft. Verflochten mit den Anordnungen der Society, seinen eigenen Sehnsüchten, seinen Ambitionen.

Unfähig, loszulassen, unfähig, sich freizukämpfen, fürchtete er die Haltlosigkeit der Schlupflöcher ebenso wie die klebrigen Fäden, in die er sich verstrickt hatte und an denen er jetzt baumelte.

Es ist ein erhellender Moment, als Jane begreift, dass die lateinischen Bezeichnungen für Pflanzen nicht dazu eingeführt sind, damit sich Botaniker den Normalsterblichen überlegen fühlen können.

Im Gegenteiclass="underline" Diese Namen sollen die Verständigung über Pflanzen vereinfachen und erleichtern. Vokabeln einer eigenen Sprache sind es, die von allen Pflanzeninteressierten gesprochen wird: von Botanikern und Sammlern aus der reinen Freude an Blumen. Von Gärtnern, Forschungsreisenden, Ärzten und Apothekern.

Jeder Name beschreibt jeweils eine einzige Pflanze, ohne Mehrdeutigkeit und ohne jeden Zweifel. Während sie sonst im Volksmund überall anders heißt, bildliche Beschreibungen rasch ausufern.

Was die Bauern Schafslorbeer nennen, Lammtöter oder Kalbsmörder, Schweinelorbeer oder Schafsgift, wäre in ausführlicher Schreibweise der Immergrüne Zwerglorbeer mit länglichen Blätterbündeln, die einander gegenüberstehen, und mit Blüten zwischen Karmin und Pink. Stattdessen gibt man ihm den Namen seiner Familie (Kalmia) und einen Vornamen (angustifolia), der ihn näher beschreibt, vielleicht noch mit dem Zusatz einer bestimmten Eigenart versehen.

Ganz ähnlich wie in Swinton jedermann weiß, wer die Pennys sind, und deren drei Töchter kennt: Mary (deren Mann gern einen über den Durst trinkt), Anne (deren Mann kein Händchen für die Schweinezucht hat) und Jane (die als Strohwitwe in England lebt, seitdem ihr Mann nach China gegangen ist).

Ein logisches und bestechend einfaches System, das umso nötiger geworden war, je mehr Pflanzen es zu benennen gab, feinere und genauere Beschreibungen notwendig machten. Sechstausend Pflanzenarten hatte schon Linnaeus beschrieben, Sir Joseph Banks hatte von seiner Reise um die Welt tausendvierhundert weitere mitgebracht – ungleich viele, viele mehr sind es, von denen man heute weiß.

Jane verspürt eine ganz neue Art von Stolz, dass Robert sein Scherflein zu dieser stetig und rasant wachsenden Ansammlung von Wissen beitragen wird. Nicht nur um seiner selbst willen, nicht nur, um etwas für seine Familie zu erreichen – sondern auch für die Nachwelt.

Jane hat viele solcher erhellenden Momente in diesem eisigen Winter, der kaum Schnee bringt. Während sie für Mr Lindley nicht nur Briefe, sondern auch seine Listen und Notizen ins Reine schreibt. Während sie sich nach und nach durch die Bibliothek der Lindleys liest. Zaghaft und scheu zuerst, dann mutiger. Gierig geradezu.

Manchmal vergisst sie darüber, dass die Kinder ja irgendwo im Haus sind.

In glühendem Schuldbewusstsein springt sie dann auf, mitten in einem noch zu schreibenden Brief oder mit einem Finger zwischen den Seiten eines Buches, und macht sich auf die Suche.

Immer findet sie sie wohlbehalten vor. John mit Milchbart und einem angebissenen Keks in der Hand, während Helen in der Schüssel mit Teig rühren darf.

Im Atelier von Miss Lindley und Miss Drake, wo die beiden Kinder misslungene und für den Papierkorb bestimmte Skizzen mit Farbstiften umgestalten oder auf dem Boden mit den beiden Katzen spielen.

Im Salon, wo John sich zum Schlafen in einem Sessel zusammengerollt hat und Helen, die Zunge angestrengt im Mundwinkel, Buchstaben aus der Fibel abmalt.

Es rührt Jane, wenn sie die beiden bei Mrs Lindley vorfindet. Wenn die Kinder mit großen Augen dem Märchen lauschen, das die Hausherrin ihnen erzählt. Wenn Helen unter deren Anleitung mit Wollresten das Häkeln lernt, während John sich von einer Kiste alter Spielsachen der Lindley-Kinder verzaubern lässt.

Unerwartet selbstständig sind die beiden geworden, mit noch nicht einmal fünf und gerade drei Jahren.

Bei aller Erleichterung, die Kinder aufgehoben zu wissen, plagt Jane manchmal so etwas wie Eifersucht. Vor allem plagt sie ein Gefühl der Schuld.

Sie vernachlässigt die Kinder, so kommt es ihr vor, für eine so geringe Tätigkeit, die sie für die Lindleys ausübt. Eine Arbeit, die sie nicht zwingend braucht; die Kinder und sie haben doch auch so genug zum Leben und ein Dach über dem Kopf.

Alles nur für eine Art von Wissen, eine neue Weise des Denkens, die ihr im Alltag nichts nützt. Ihr manchmal geradezu luxuriös vorkommt, wie der Ballen Seide aus China, der nach wie vor im Dunkel des Kleiderschranks vor sich hin schlummert.