Eine Lüge.
»Meine Füße. Gewöhnliche, plumpe Bauernfüße hatte ich. Lotosfüße sollten es aber sein.«
Damit aus einem Kind eine Frau werden konnte. Aus einem wertlosen Bauernmädchen gutes Heiratsmaterial.
Denn nichts machte eine Frau schöner und begehrenswerter als diese winzigen, neu geformten Füßchen. Ihr trippelnder, hüftschwingender Gang. Die Hilflosigkeit, die eine solche Frau an ihr Heim fesselte. Die die Hilfe einer Dienerin erforderte, musste sie sich dennoch einmal vor die Tür wagen.
Ich fragte mich, wie vielen ihrer Töchter die Wangs wohl ebenfalls Lotosfüße aufgezwungen hatten. Wie vielen Mädchen hier im Dorf man das Gleiche angetan hatte.
»Sie banden mir die Füße ein. Die Heiratsvermittlerin. Meine Mutter. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die wusste, wie man dabei vorging.«
Weiß waren die Fesseln gewesen, die in mein Fleisch schnitten, bis die Haut aufbrach, den Stoff mit meinem Blut tränkte. Weiße, durch antrocknende Tinkturen versteifte Bänder, die die vier kleinen Zehen nach unten bogen, mit dem Ziel, die Knochen zu brechen, die Sehnen zu zerreißen.
Meine Hände verkrampften sich, meine Magennerven zogen sich zusammen; erstaunlich, wie viel Macht die Erinnerung haben konnte, auch nach zwanzig Jahren noch.
»Ich hatte nicht gewusst, wie viel Schmerzen man erleiden konnte. Ich war überzeugt, ich müsste sterben, allein am Schmerz. Den Tod hatte ich mir gewünscht, nur damit dieser Schmerz aufhörte. Stunden. Ganze Tage und Nächte. Erst viel später erfuhr ich, dass viele Mädchen an dieser Prozedur starben. Weil sich die Füße, die Nägel entzündeten und das Blut vergifteten. Dass viele dieser Lotosfüße faulten. Begleitet von einem Gestank, den auch die teuersten Düfte nicht überdecken können. Und dass viele Frauen unter den Schmerzen, die sie von Kindheit an begleiten, zum Opium greifen oder ihrem Leben ein Ende setzen, weil sie die Qualen nicht länger ertragen.«
Doch noch viel schlimmer als die körperliche Pein war das Begreifen, dass nicht nur meine Knochen gebrochen werden sollten. Sondern auch mein Geist. Mein Wille.
Das Wissen, dass ich danach nie wieder das Gras unter meinen bloßen Füßen spüren würde. Den sonnenwarmen Erdboden, oder wie der Matsch herrlich zwischen meinen Zehen hervorquoll.
»Ich nahm den Kampf auf. Schreiend und brüllend, mit meinen Fäusten, meinen Zähnen. Den Kampf gegen diese Fesseln. Gegen meine Mutter, gegen die Frau des Nachbarn, die mich auf meinen verbogenen und eingebundenen Füßen mit einem Stock durch das Zimmer trieben, damit die Knochen brachen. Aber meine Knochen waren stark. Ich war stark.«
Ein Lächeln breitete sich nun auf meinem Gesicht aus. Ich konnte noch immer die Kraft in mir spüren, die ich damals, als kleines Mädchen, aufgebracht hatte. Den ungeheuren Mut. Diesen unbedingten, unbezähmbaren Willen, mich zu befreien.
»Eines Nachts gelang es mir, die Fesseln zu lockern, mit denen sie mich an einen Stuhl gebunden hatten. Mich loszumachen und die Bänder um meine Füße zu lösen.«
Ich brachte sogar die Kraft auf, keinen Laut von mir zu geben, obwohl es so, so wehtat, als das Blut wieder in die abgebundenen Füße, die abgeschnürte Haut schoss. So leise war ich, dass ich meine Mutter nicht weckte, die auf dem Boden schlief. Nicht meinen Vater, der im vorderen Raum lag, zusammen mit den Kleinen. Während man die älteren Kinder bei Nachbarn untergebracht hatte, damit sie sich nicht erweichen ließen. Von meinem Weinen. Meinen Schreien. Meinem Betteln. Damit sie kein Herz zeigten und mich losbanden.
»Ich zwängte mich durch das Fensterchen und humpelte barfuß über die Felder und die Wiesen. In die Nacht hinaus.«
Ein Gang wie über Glasscherben, mit jedem Schritt. Ohne anzuhalten. Ohne einen Blick zurück.
Ich machte nur Halt, um aus einem Bach zu trinken, irgendwo ein Ei zu stehlen oder ein paar Pflaumen. Die Sohlen meiner Füße platzten auf und bluteten, aber ich lief weiter. Weiter und weiter auf meinen großen, starken Füßen.
Es war mir gleich, ob ich lebte oder starb.
Ich war frei.
»Manchmal … wenn ich heute daran zurückdenke … dann kommt es mir so vor, als wäre jenes kleine Mädchen damals tatsächlich gestorben, in jener Nacht.«
Als wäre Qiuyue noch einige Zeit als verlorene Seele umhergeirrt, in den Weiten Anhuis, zwischen den Getreidefeldern und Viehweiden.
In einem Reich der Schatten. Im Echo von Schmerz, Hunger und Durst, Angst und Einsamkeit.
»Das Nächste, an das ich mich erinnere, sind die Farben der aufgehenden Sonne. Das Rot und Gold eines Gewands. Ein Mönch, der mich auflas und auf seinem Esel mitnahm.«
In die weit, weit entfernten Berge zwischen den Wolken. In das Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume.
Wo ich als Lian wiedergeboren wurde. Die lernte, dass kein Stock, keine Speerspitze und keine Klinge ihr jemals wieder solche Schmerzen zufügen konnte wie die, die sie als kleines Mädchen überstanden hatte. Dass das Schlimmste in ihrem Leben bereits hinter ihr lag. Die biegsam war wie Bambus und fließend wie Wasser und sich niemals brechen ließ.
Deshalb war es wie ein kleines Wunder für mich, hier vor Fortune zu stehen, fest und sicher auf meinen großen starken Füßen. Auf denen ich schnell laufen und viele, viele li zurücklegen konnte. Die mir beim Klettern Halt und Stütze gaben und mich beim Sprung in die Höhe katapultierten.
Die sich ebensowenig hatten brechen lassen wie ich.
57
»Seit damals hasse ich die Farbe Weiß«, flüsterte sie. »Seit damals bin ich nicht mehr in Anhui gewesen.«
Stolz stand sie vor ihm. Mit hoch erhobenem Kopf und glänzenden Augen.
Fortune blieb stumm.
Er tat sich ohnehin nicht leicht mit Worten, aber selbst wenn er gewandter gewesen wäre, hätte er nichts auf all das zu sagen gewusst. Das Leben von Qiuyue und von Lian, dem Mädchen mit dem Schwert, sprengte den Rahmen seines englischen Wortschatzes. Zu gewaltig war es, zu aufwühlend.
Er hatte solche Frauen gesehen, von denen Lian erzählt hatte. In Canton damals, an jenem Neujahrsfest. Frauen, die sich mit winzigen Trippelschritten vorwärtsbewegten, unsicher und schwankend, oft von Dienerinnen mit helfender Hand gestützt. Kostbaren, zerbrechlichen Blüten von fremder, leuchtender, fast blendender Schönheit gleich.
Er hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Hatte geglaubt, es läge an ihrem Schuhwerk, verborgen unter dem Saum ihrer Gewänder. Eine merkwürdige Laune der Mode, so wie er manches an weiblicher Bekleidung fragwürdig und übertrieben künstlich fand, auch in England. Korsetts, mehrere Röcke übereinander und hässliche Hüte bei den Damen, viel zu enge, steife Hemdkragen bei den Herren.
Ein Gedanke, den er damals sogleich wieder vergessen hatte.
Fortune hatte gelernt, sich nicht mehr über die Merkwürdigkeiten dieses Landes und seiner Menschen zu wundern. Nicht darüber zu lachen, wenn er etwas entdeckte, das seinen westlichen Augen, seinem westlichen Verstand absurd vorkam. Nicht zu verurteilen.
Nicht die Überheblichkeit, mit der man Fremde als Barbaren bezeichnete, wo doch so viel im eigenen Land im Argen lag, es an vielen Ecken schmutzig war und stank und die Menschen selten besser rochen. Die Eitelkeit, mit der man beim Anblick mächtiger Dampfer aus dem Westen müde abwinkte und versicherte, man hätte selbst unzählige davon, im Inneren des Landes, obwohl dies keineswegs der Wahrheit entsprach. Auch die Nachlässigkeit nicht, mit der man ihm Wege und Entfernungen beschrieb; Angaben, die sich im besten Falle ungenau, im schlimmsten Fall als schlichtweg falsch erwiesen und ihn mehrfach in die Irre geführt hatten.
Jetzt jedoch überwältigte ihn nackter, ohnmächtiger Zorn auf dieses fremde, barbarische, feindliche Reich.
Lians letzte Worte hallten in ihm wider, ein Flüstern darin wie von einem leisen Sommerwind. Etwas, das sie nicht ausgesprochen, aber gleichwohl gesagt hatte, vielleicht auch nur gedacht und in ihre Worte mit eingeflochten.
»Trotzdem bist du zurückgekehrt«, sagte er ungläubig und wie begriffsstutzig.