»Ja. Trotzdem bin ich jetzt zurückgekehrt.«
Er streckte die Hand nach ihr aus; unsicher, wo er sie berühren wollte, wo er es durfte – an der Hand, der Schulter, der Wange? –, hielt er inne. Sein Blick fiel auf den Reishalm zwischen ihren Fingern.
»Du bist wie wilder Reis. Du brauchst kein Wasser, um frei zu wachsen.«
Ein kleines Lächeln leuchtete auf ihrem Gesicht. »Dennoch sind viele Schlangen an mir vorübergeschwommen. Jeden Tag wurden es mehr.«
Ihre Hand kam ihm entgegen, schloss sich um seine, als besiegelte sie einen Pakt.
»Lass mich dir helfen, an deinen Tee zu kommen.«
Das tränende Herz
(Dicentra spectabilis)
(Flammendes Herz – Bleeding Heart)
Schließlich scheint mir, dass nichts einem jungen Naturforscher förderlicher sein kann als eine Reise in ferne Länder. Es schärft und lindert zugleich teilweise die Lust und das Verlangen, das, wie Sir J. Herschel bemerkt, ein Mann erfährt, obwohl alle leiblichen Sinne vollauf befriedigt sind.
Charles Darwin, The Voyage of the Beagle, 1839
Blumen lassen etwas von ihrem Duft in der Hand zurück, die sie darreicht.
Chinesisches Sprichwort
58
In den Bergen von Wangshan.
Gemäßigter Aufstieg bisher, mehr Hügel als Gebirge und in voller Frühlingsblüte, teils bewaldet und von Bächen und kleinen Flussläufen durchzogen.
Als ob die Berge in die Ferne rücken, je weiter ich auf sie zumarschiere, so kommt es mir vor. Zumindest ist der Weg dorthin weiter, als es von Kiangnan aus gewirkt hat.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals derart unvorbereitet aufgebrochen zu sein. Ohne auch nur eine vage Einschätzung, wie weit der Weg sein wird und wo er entlangführt. Ohne jemanden, der sich wenigstens grob auskennt. Ohne zu wissen, was mich am Ende erwartet.
AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE
Fortune ließ den Bleistift sinken.
Ein Geräusch hatte ihn eben aus seinen Gedanken vertrieben.
Suchend ließ er den Blick durch die Wildblumen wandern. In das bewegte Laubdach über sich und hin zum Bach, der zu seinen Füßen vorbeisprudelte.
Bis er Lian entdeckte, auf der anderen Seite des Gewässers und doch keine zwei Armlängen von ihm entfernt.
Halb im Dickicht verborgen, der Zopf über die Schulter baumelnd, beugte sie sich auf Knien über das Wasser, wusch sich die Arme unter den hochgerollten Ärmeln, schöpfte mit der Hand Wasser und trank es.
Sie war wirklich wie Bambus, dachte er, als er ihr zusah. Wie wilder Reis. Aus den Landschaften dieses Landes geformt, ungestüm und sanft und manchmal rau. Kraftvoll und blühend und unbezwingbar.
Als hätte sie seinen Blick gespürt, seine Gedanken gehört, hob sie den Kopf, und ihre Augen trafen sich. Rasch wollte Fortune sich abwenden, doch er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Ihre Augen hielten ihn fest, unbeirrt, fast herausfordernd.
Unergründlich war der Blick dieser Augen, so dunkel, so tief, dass man sich darin verlieren konnte.
Ihr Mund war leicht geöffnet; ein Wassertropfen rann über ihre Unterlippe, das Kinn hinab. Mit dem Handrücken wischte sie ihn weg, in einer langsamen, fast selbstvergessenen Geste.
Ihre Augen lächelten.
Konnte man nur mit den Augen lächeln?
Abrupt stand Lian auf und verschwand hinter den Büschen.
Ihr Lächeln blieb.
Ihr Weg führte sie durch Felder von Raps, und Fortune fragte sich, ob man diese Berge deshalb die Gelben Berge nannte. An Magnolien vorbei, deren Blüten in Weiß oder Rosa vor der Schroffheit von Fels und Nadelwald fragil und feminin wirkten, im Nebel von einem geheimnisvollen Zauber umgeben. Wo sich nach Sonnenaufgang Vogelschwärme versammelten und jedes Tal mit ihrem melodischen Weckruf füllten, bevor sie irgendwann auf einen geheimen Zuruf hin aufflatterten und ausschwärmten und ihre Lieder in die Morgenluft hinaustrugen, in Wälder und über Wiesen und zu den Bergen hinauf.
Ein Weg, für den sie sich so gründlich vorbereitet hatten, wie es nur möglich gewesen war. Indem Vater und Sohn Wang überall herumfragten, wer etwas über die Berge und das Kloster wusste. Stück für Stück an Wissen und Halbwissen, Mutmaßungen und Hörensagen und sicher auch Legenden wurde zusammengetragen, mit Lian und Xinghua besprochen und auf einen Bogen Papier gebannt wie in einer Schatzkarte. So wie Stück für Stück auch ihre Ausrüstung und der Proviant zusammengestellt worden waren, die sie auf dem Rücken trugen.
Aber erst als der uralte, fast schon versteinert aussehende Ah Ming aus dem Dorf mit brüchiger Stimme verkündet hatte, jetzt sei die richtige Zeit, um in die Berge hinaufzusteigen, jetzt spüre er keinen Schnee mehr in den Knochen, hatten die Wangs sie ziehen lassen.
Die Landschaft wurde karger, der Pfad steiler und schmaler.
Lian ging voraus, als kenne sie diesen Weg; Fortune wollte nicht daran denken, dass sie hier genauso fremd war wie er.
Vorab hatte er sich nicht vorstellen können, wie leicht es ihm fallen würde, diesen Weg mit ihr zu gehen. Vom Morgengrauen an durch die Berge zu wandern und sich nach einer kleinen Mahlzeit bei Sonnenuntergang unter freiem Himmel schlafen zu legen, mit nur eine Handbreit Gras und Bergluft zwischen ihnen. Sich mit Blicken oder einem Lächeln zu verständigen, während sie voranmarschierten. Auf einer Rast am Wegesrand dem anderen etwas von sich zu erzählen. Einen Gedanken zu teilen, der einem im Kopf herumging. Eine Frage, die einen beschäftigte. Ein kleines Geheimnis, das man in sich trug.
Er verbot sich den Wunsch, es möge immer so sein.
Bei jedem Schritt war er sich des Abgrunds neben sich bewusst. Bei jedem Schritt, der eine Kaskade von Steinchen lostrat, die über die Felskante rieselten, dann verstummten und erst nach einiger Zeit weit, weit unten irgendwo aufprasselten. Den Sog der Tiefe spürte er, die nur darauf lauerte, dass er einen Fehltritt tat, sein Gleichgewicht aus dem Lot geriet.
Fortune blieb stehen, um Atem zu schöpfen, dieses Gefühl von Schwindel abzuschütteln.
Wolken senkten sich über die Berge, streckten ihre nebligen Hände nach dem Pfad aus, der sich vor ihnen erstreckte. Sein Blick fing sich an einer Kiefer zwischen den Felsen: Pinus sinensis, wie er sie schon tausendfach in China gesehen hatte.
Diese Kiefer war anders. Der Baum hatte sich geteilt, als er noch ganz jung gewesen war, und beide Teile waren danach Seite an Seite weitergewachsen. Wie sich die Äste umeinander schlangen, sich die eine Baumkrone über die andere neigte, ließ an zwei Menschen denken, die sich umarmten.
Ein Liebespaar.
Lian war stehen geblieben und hatte sich umgedreht. Mit diesem unergründlichen Blick, einem kleinen Lächeln, das er erwiderte. Das ihm Halt gab und neuen Mut.
Unausgesprochen war es geblieben, dass diese Zeit in den Bergen ihnen allein gehören würde. Ohne einen Gedanken daran, wie lange sie währte. Ohne einen Gedanken an das Danach.
Lian ging weiter, und er folgte ihr, in die Wolken hinein, seine Schritte fest gegründet in ihren Fußstapfen.
Und bei jedem Schritt ließ er sein altes Leben hinter sich.
Es regnet viel in diesem Frühling. Dauernd eigentlich.
Nur selten ist der Himmel nicht grau, reißen die Wolken auch einmal auf und präsentieren ein Stück Himmel, der einen staunen lässt, weil man schon fast vergessen hat, wie blau er sein kann. Dann wärmt auch endlich die Sonne wieder das Gesicht und das Gemüt.
Rar sind solche Stunden; manchmal ist es mittags schon so dunkel wie am Abend, bevor erneut der Regen einsetzt.
Jane stört sich nicht daran. Sie ist froh, im Garten nur das Nötigste tun zu können, was in diesem Frühling zumeist auf gar nichts hinausläuft. Sie hat auch so genug zu tun: mit den Schreibarbeiten in Acton Green, dem Haushalt und damit, die Kinder bei anhaltend schlechtem Wetter beschäftigt zu halten. Trotzdem bleibt noch genug Zeit für Bücher.