Jemand beobachtete ihn. Jemand, der sich zwischen den Clematis am anderen Ufer zusammenkauerte.
Ein Mädchen.
Soweit er dies durch Blätter und Blüten hindurch einschätzen konnte.
Er fuhr zusammen, als das Mädchen aufsprang, durch die Clematis stolperte und davonrannte.
Es war nicht die Art, wie ihr Zopf durch die Luft fegte oder wie das Schwert auf ihrem Rücken dabei tanzte. Es war ihr Gesicht. Nicht vertraut, nicht unbekannt.
Wo doch alle chinesischen Gesichter für ihn so ähnlich aussahen, dass er wohl nicht einmal Wang erkannt hätte, würde er ihm unerwartet auf der Straße begegnen.
Er erinnerte sich an dieses Gesicht, aus dem Tumult unter der Pagode von Chimoo. Das Gesicht über der gezückten Klinge. Auf den Felsen, im Schlaglicht der Sonne, eine seltsame Mischung aus Aufruhr und innerem Frieden auf den Zügen.
Mit einer Falte über der Nasenwurzel starrte Robert Fortune verwirrt auf die Stelle zwischen den Clematisblüten.
Noch lange, nachdem das Mädchen verschwunden war.
Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, welche Bedeutung man der Clematis zu Hause in England zuschrieb.
Beim besten Willen wollte es ihm nicht einfallen.
5
Schon von Weitem hatte ich ihn gesehen, hoch aufragend wie ein Turm in der leeren Landschaft. Seine Schritte waren unüberhörbar, wie das Stampfen eines Ochsen.
Ich hatte gehofft, er würde vorbeigehen. Geduckt hatte ich mich und den Atem angehalten, als könnte ich zwischen den blauen Blumen verschwinden.
Bis er am Fluss seinen Durst gestillt oder seine Notdurft verrichtet hätte und dann seinen Weg fortsetzte.
Mich in ein Kampfgetümmel zu stürzen, mich mit Kerlen anzulegen, die größer und breiter waren und in Überzahl – davor fürchtete ich mich nicht. Ich fand es auch nicht besonders mutig: Dafür war ich ausgebildet worden, hatte mich jahrelang darin geübt.
Begegnete ich anderen Menschen auf meinem Weg, überfiel mich Scheu, umso mehr, je verlassener die Gegend war. Die Scheu eines Menschen, der das Alleinsein liebt. Dessen Zuhause die Einsamkeit ist.
Er war nicht der erste fremde Teufel, den ich gesehen hatte. Die Küste war voll von ihnen.
In Xiamen, das die Leute dort auch Amoy nannten. In Shanghai. In Ningbo und Fuzhou und Guangzhou, von dem fast jeder nur als Canton sprach. Hongkong hatten sie gleich an sich gerissen. Wie die dunkelhaarigen, braunhäutigen Männer aus pu tao ya, dem tiefsten Südosten der westlichen Welt, es zuvor schon mit Macao getan hatten.
Nur in Dinghai waren die Fremden weniger geworden, seit die Soldaten fort waren.
Überall machten sie sich breit und griffen nach allen Schätzen, derer sie habhaft werden konnten. Und meine Landsleute drängten sich dazwischen, um ihr eigenes Stück vom Kuchen des schnellen Geldes abzubeißen.
Vielleicht war es eine gute Sache, dass unsere Welt dabei war, sich zu verändern. Unser altes, stolzes, himmlisches Reich zu spüren bekam, dass es nicht unbesiegbar war. Nicht dem Rest der Welt überlegen. Vor allem nicht den verachteten, verspotteten Barbaren aus dem Westen.
Obwohl die Wellen, die diese Fremden an der Küste schlugen, wohl nie den Rest des Landes erreichen würden. Dafür war es zu groß. So groß, dass man Jahre darin umherwandern konnte, ohne jemals alles davon zu sehen, wie es früher bei uns im Dorf hieß. Und vermutlich würden diejenigen die wenigsten Veränderungen erleben, die sie am nötigsten brauchten.
Die Armen. Die Kinder. Wir Frauen.
Die fremden Teufel waren allesamt Männer, deren Stimmen durch die Gassen und über die Häfen donnerten. Große, ungeschlachte Männer. Die stanken, ranzig wie altes Schweinefett und nach Schnaps. Mit hässlichen, unförmigen Gesichtern und unheimlichen Augen, hart und kalt wie Glas.
In den Hafenstädten gewöhnte ich mir schnell an, breitbeinig zu schlendern wie ein Mann und den Kopf gesenkt zu halten. Für die fremden Teufel war ich leichte Beute.
Ja, selbst ich. Das Mädchen mit dem Schwert.
Weil ich ihre Regeln nicht kannte. Ihre Gesetze.
Sicher würde mich nichts Gutes erwarten, schlitzte ich einem von ihnen die Kehle auf, um mich selbst zu verteidigen. Schließlich war ich in ihren Augen nur ein Chinesenmädchen. Meine Landsleute wussten immer sofort, was ich war. Wo ich hingehörte.
In die Schatten. Die dunklen Winkel.
Dort, wo man mich brauchte, in diesen unsicheren Zeiten.
Deshalb verstanden sie es nicht, die Männer von Shenhu. Warum ich mich auf dem Pfad unter der Pagode nicht auf ihre Seite schlug. Sondern den fremden Teufel verteidigte und aus ihrem Zugriff befreite. Diesen hilflosen Riesen am Boden.
Ich hatte noch nie einen Weißen gesehen, der sich verprügeln ließ wie ein schwächlicher Junge.
Die Männer von Shenhu lachten und höhnten erst. Dann richtete sich ihr Zorn gegen mich. Als ob sie mir gewachsen gewesen wären. Diese Bauerntölpel, die nichts anderes konnten als schwerfällig mit ihren Stöcken auszuholen.
Ich hatte es getan, weil es das Richtige gewesen war. Nicht einmal so sehr, weil ich so erzogen worden war. Sondern weil ich daran glaubte.
Wenn ich ehrlich sein soll … Vielleicht hatte ich es auch getan, um ihnen eine Lektion zu erteilen. Diesen Raubeinen ohne einen Funken Verstand, die ihren Nachbarn jedes Körnchen Reis mehr neideten und grob mit ihren Frauen und Kindern umgingen. Denen ich ein Dorn im Auge war, weil ich mich nicht auf dem Platz vor dem Feuer zusammenkauerte, der für mein Geschlecht vorgesehen war. Und deren Glitzern im Blick mir verriet, was sie am liebsten mit einer wie mir angestellt hätten.
Hätten sie nicht so viel Angst vor mir gehabt.
Die Aura meines Schwertes machte mich unantastbar. Selbst in Shenhu.
Trotzdem, es war höchste Zeit gewesen, Shenhu den Rücken zu kehren, gleich am nächsten Tag.
Zeit, weiterzuziehen, auf einem Kahn voller Pflaumen und Orangen.
Frauen an Bord bringen Unheil, das glaubt jeder Seemann aus dem Norden zu wissen. Mein Schwert jedoch machte aus mir einen Glücksbringer, den man stets bereitwillig mitfahren ließ.
Dieses Mal nach Zhoushan, wo die Menschen freundlich waren und freigiebig.
In Zhoushan musste ich nie Mangel leiden. Überall bekam ich eine Schüssel Gemüse und reichlich Reis dazu und ein Lager für die Nacht. Oft baten mich die Bauern, mit ihnen zusammen zu essen und von meinen Wanderungen zu erzählen, von meinen Abenteuern. Und nicht selten steckte mir eine Bauersfrau heimlich ein paar Kupfermünzen zu oder ein abgelegtes Hemd, damit mein Besuch Glück brachte und Segen.
Manchmal mit Mitleid in den Augen. Manchmal mit der Sehnsucht, an meiner Stelle zu sein.
Wenn es mir zu viel wurde, zog ich mich in die Berge zurück. Wo ich genug Beeren und Früchte fand, die mich nährten, sogar noch im Herbst. In dieser Stille, dieser Einsamkeit, die mich die Freiheit atmen ließ, für die ich mein altes Leben aufgegeben hatte.
Kaum jemand verirrte sich hierher. Höchstens im Frühsommer, wenn die Wälder voll waren von den süßen, purpurroten Beeren der yangmei.
Schon gar kein fremder Teufel.
Noch viel weniger derselbe fremde Teufel, den ich unter der Pagode von Shenhu aus den Klauen der räuberischen Gesellen befreit hatte.
Natürlich war er mir nicht gefolgt, wie auch, das war unmöglich.
Nie kreuzte sich mein Weg ein zweites Mal mit jemandem, dem ich geholfen hatte. Weil die Menschen sich zwar an die gute Tat erinnerten, nicht aber an die Hand, die dabei das Schwert geführt hatte. Während ich allein auf die Situation konzentriert war. Auf Arme und Beine des Gegners; auf Blicke, Geräusche, Atemzüge. Auf das Zucken eines Muskels, einen Lidschlag.
Und nie blieb ich lange genug für Dank oder einen Lohn.
Wir waren wie Schatten. Manche sagten auch: wie Dämonen.
Das war das Los von uns jianghu.
Ich glaubte nicht an Schicksal. Aber was sonst konnte es sein, ihm noch einmal zu begegnen, zehn Tagesreisen zu Wasser von Shenhu entfernt?
Diese zufällige Fügung gefiel mir nicht.