Immer nur wenn die Kinder schon im Bett sind, noch ein Stündchen oder zwei, bevor sie sich selbst schlafen legt. Vor dem flackernden Feuerschein des Kamins, mit hochgezogenen Schultern und glühenden Wangen tief über das Buch gebeugt, immer angespannt und wie auf dem Sprung.
Als ob sie fürchtet, etwas Verbotenes zu tun. Dabei ertappt zu werden, wie sie den verzauberten Garten von Erasmus Darwins Loves of the Plants betritt.
Den flatternden Schmetterlingen und den Glühwürmchen, den Nymphen und Gnomen schenkt sie kaum Beachtung, sei es im silbernen Mondlicht dieser Verse oder unter dem raschelnden Laub der Eichen. Lieber liest sie von den liebeskranken Veilchen und den errötenden Rosen, die sich zwischen moosbestickten Betten tummeln, von mütterlichen Tulpen und keuschen Mimosen.
Das Grau der Tage in diesem Frühling, das an den Herbst erinnert, nach Zurückgezogenheit verlangt und innere Einkehr nahelegt, entspricht Janes Stimmung. Die dunklen Stunden des Tages scheinen die Abgründe zu spiegeln, denen Jane sich heimlich überlässt.
Sogar in George Eliots Adam Bede entdeckt sie jetzt Wangen wie Rosenblätter. Augenlider, zart wie Blütenblätter. Wimpern, gekräuselt wie die Staubblätter einer Blume.
Kitschig für jemanden von Janes nüchterner Wesensart. Wenngleich nicht ohne Reiz.
Oft wandern ihre Gedanken dann zu Linnaeus und seinem System. Es sind die Bilder, derer er sich dabei bedient, die Jane nicht loslassen wollen.
Wie er die Pflanzen nach der Art ihrer Fortpflanzung einteilt, diese mit der Ehe zwischen Mann und Frau vergleicht. Dass alles, was blüht, eine sichtbare Ehe eingeht, während Farne, Moose und Algen sich im Verborgenen vermehren, in einer heimlichen Ehe.
Der Vergleich, wie zwei Farne einander Liebhaber und Mätresse sind und miteinander durchbrennen, ist einerseits merkwürdig; andererseits macht es diese biologische Tatsache für Jane greifbarer.
Sie kann nachvollziehen, weshalb Linnaeus‘ System so oft geschmäht wird. Voller Geschlechtlichkeit und Wollust ist es: Vielehen sind keine Seltenheit, und dazu verschwimmt zuweilen noch die scharfe Grenze zwischen männlich und weiblich. Trotzdem versteht sie nicht, warum eine solche Betrachtungsweise wie die Linnaeus‘ ungeeignet sein soll für weibliche Gemüter, einen weiblichen Verstand. Wo doch Frauen viel näher an diesen biologischen Gegebenheiten sind, indem sie Kinder empfangen und austragen, sie zur Welt bringen und nähren.
Allzu oft schweifen ihre Gedanken dann vom Geschlechtsleben der Blumen ab.
Den Akt als solchen vermisst sie nicht. Er ist ihr kein Graus. Keine Pflicht und ihr nur selten lästig. Eintönig empfindet sie ihn jedoch, seit sich das aufregend Neue daran abgenutzt hat, die verwirrende Fremdartigkeit. Monoton in seinem immer gleichen Ablauf, der stets gleichen Mechanik.
Etwas, das jedoch genauso zu einer Ehe gehört wie das Wäschewaschen und das Tischdecken. Eine Notwendigkeit, um Kinder zu haben. Ein Geschenk, das sie Robert gern macht.
Sie vermisst es, gestreichelt und im Arm gehalten zu werden, und ab und an einen Kuss. Die Innigkeit, die damit einhergeht. Das Vertrauen, das zwei Menschen einander entgegenbringen, indem sie sich in ihrer Nacktheit begegnen. In einer Verwundbarkeit, die bei Mann und Frau so verschieden ist.
Wie viel mehr muss Robert erst ihr Zusammensein als Mann und Frau fehlen.
Nicht einen einzigen Augenblick lang hegt sie die Befürchtung, es könnte eine andere Frau geben, in China. Eine dieser unnatürlich blassen und steifen Puppen auf kostbarem Porzellan. Robert ist nicht diese Sorte von Mann, das weiß sie, sonst hätte sie ihn nicht geheiratet.
Unberührt wie sie war er in ihrer Hochzeitsnacht. Genauso unbeholfen, als sie feststellten, dass das Wissen um das Prinzip und dessen praktische Umsetzung zweierlei waren.
Robert ist ein anständiger Mann. Ein Mann von Ehre. Dem es lange zu schaffen machte, wie in Edrom und Umgebung auch Jahre danach immer wieder mit hochgezogenen Brauen über die Fortunes getuschelt wurde. Darüber, dass Thomas Fortune sich erst dann am Traualtar einfand, als Agnes‘ dicker Bauch mit dem kleinen Robert darin selbst mit viel gutem Willen nicht mehr zu übersehen gewesen war.
Wie in Chiswick auch über John Lindley und Miss Drake getuschelt wird.
Wo gibt es denn so was, fragt man sich gegenseitig, dass die Gouvernante von allen im Haus vertraulich »Ducky« gerufen wird. Und obwohl die Kinder alle drei schon groß sind, fast flügge, ist Miss Drake immer noch da. Verbringt mehr Zeit mit Mr Lindley als dessen Frau, weil sie ihm bei seinen botanischen Forschungsarbeiten zur Hand geht. So selbstverständlich und vertraut, als wäre sie seine bessere Hälfte.
Wenigstens hat Lindley den Anstand, Miss Drake nicht auch noch in Gesellschaft an seiner Seite zu präsentieren, heißt es oft, in hä-mischer Genugtuung. Angestrengt hat Jane dann immer weggehört. Jetzt macht sie sich doch ihre eigenen Gedanken. Wenn sie beobachtet, wie liebevoll Mr Lindley, der mit seinem langen Fusselbart und dem schütteren Haar älter wirkt als Mitte vierzig, mit Miss Drake umgeht. Wie Miss Drake manchmal, wenn sie ihm eine ihrer Zeichnungen zur Begutachtung vorlegt, die Hand auf seinem Arm oder seiner Schulter ruhen lässt.
Jane beginnt sich Gedanken zu machen, was einen Mann und eine Frau zueinander zieht. Aneinander bindet.
Reiche Leute heiraten des Geldes oder eines Titels wegen, für Land oder ein Unternehmen, das hat sie früher auf dem Grundbesitz mitbekommen und im Haus ihrer Herrschaft in Edinburgh. Ehen, die mehr einer Geldanlage oder einem politischen Schachzug entsprechen als der Lebensplanung zweier Menschen.
So gesehen war Jane immer froh gewesen, zu den einfachen Leuten zu gehören. Die konnten sich aussuchen, mit wem sie ihr Leben verbrachten. Weil man ein Lächeln besonders mochte oder eine Stimme. Die Art, wie ein junger Mann sich die Haare aus der Stirn strich oder auf dem Feld zupackte. Weil die Familie ehrbar war und die Schwiegermutter in spe keine Hexe, die einem das Leben schwermachte.
Bei Robert und ihr ist es die gleiche Herkunft gewesen. Eine wechselseitige Zuneigung, gleiche Werte, gleiche Vorstellungen vom Leben und von der Zukunft. Bei den Lindleys hingegen … Was es auch immer gewesen sein mochte – es war kaum noch vorhanden, zumindest nicht für Außenstehende erkennbar. Abgelöst, vielleicht sogar ausgelöscht schien es durch die Verbundenheit des Geistes, die Mr Lindley und Miss Drake teilten.
Über die Ehe als solche beginnt Jane nachzudenken.
Über dieses Versprechen, das man einander so feierlich gibt: bis dass der Tod uns scheidet. Nicht leichtfertig, aber doch in der vollkommenen Ahnungslosigkeit, was das Leben noch bringen wird.
Wie sehr sich die Ehe verändert, wenn das erste Kind da ist. Das Band zwischen Mann und Frau einerseits stärkt, sich gleichzeitig aber auch zwischen sie drängt, mit all seinen Bedürfnissen an die Mutter, die sich immer nur für den Augenblick stillen lassen. Mit dem zweiten Kind, bei dem sich vieles wiederholt und vieles verwirrend neu ist. Wie eng dieses Band wird, wenn man die alten Wurzeln kappt und sich in einem anderen Winkel des Königreichs ein neues Leben aufbaut.
Wie einsam einer von beiden sein kann, in einer Zeit der Trennung, die sich länger und länger ausdehnt. Wie Jane. Wie einsam einer von beiden sein kann, auch unter dem gemeinsamen Dach. Wie Mrs Lindley.