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Unruhen zeichneten sich am Horizont ab, vielleicht ein neuer Krieg. Um Opium oder Tee, vielleicht würden die mächtigen Männer unserer Länder noch einen anderen Grund finden.

Dies war keine Zeit, die kleinen Leuten wie uns Raum ließ für unsere Wünsche, für unsere Pläne.

Das wusste er genauso gut wie ich, so gut kannte ich ihn.

Aber dies war kein Morgen, um vernünftig zu sein. Nicht nach dieser Nacht.

Nicht, während die Sonne uns ihren ersten Gruß entgegenschickte, der goldene Himmel das Wolkenmeer zu unseren Füßen blau einfärbte, dann rosig tönte. Ein Zauber, der nur uns gehörte, uns allein.

Ein Morgen war es, um zu träumen. Zu glauben, dass alles möglich sein konnte, was man sich nur wünschte auf dieser Welt.

»Erst müssen wir das Kloster finden«, wisperte ich, und er nickte.

Stumm hielten wir uns aneinander fest. Auf diesem kleinen Bröckchen Fels zwischen Himmel und Erde, während die Sonne über den Gipfeln von Huangshan aufging.

Sinnlichkeit. Begehren.

Der blinde Fleck in Janes Gesichtsfeld ist dahingeschmolzen. Unter den sacht ansteigenden Temperaturen dieses bestechend grünen Frühlings, obwohl es immer noch zu kühl ist für die Jahreszeit. Freigewaschen ist diese Stelle vom vielen Regen, während sich die Natur zu bemühen scheint, das schlechte Wetter doppelt und dreifach wiedergutzumachen: mit Feldern von Schneeglöckchen und Primel und Seen von Krokus. Mit Meeren leuchtender Tulpen und Narzissen.

Eine Blütenpracht, eine Fruchtbarkeit, die unter dem Grau der Wolken noch intensiver, noch überwältigender ist und hungrig macht nach mehr.

Jetzt kann Jane ihr Sehnen benennen, es verorten. Manchmal in der Gegend ihres Herzens. Manchmal in ihrem Schoß.

Ab und zu fragt sie sich, wie ihr Leben heute aussehen würde, wäre sie einem anderen Mann als Robert begegnet. Einem Knecht, auf einem Dorffest in Swinton. Einem Kammerdiener oder Gemischtwarenhändler in Edinburgh.

Wie es wohl wäre, mit einem anderen Mann. Unter einem anderen Dach. In einem anderen Bett.

Mit einem der Gentlemen, die bei Zigarrenrauch und einem Glas Hochprozentigem mit Mr Lindley zusammensitzen und über die Pflanzen konferieren, die sie nach Acton Green mitgebracht haben. Herren, die mit der Botanik verheiratet zu sein scheinen und deren Aura von großen Geistesgaben und fast schon überirdischem Wissen Jane ebenso einschüchtert wie ihre geschliffenen Worte.

Wie Mr Hawkins, rundwangig und semmelblond, der sich den Farnen verschrieben hat und Jane stets überschwänglich begrüßt, wenn er sie im Arbeitszimmer von Mr Lindley antrifft. Oder Mr Bell, Orchideenliebhaber wie Mr Lindley, mit seiner ledrigen Haut, Haar und Bart wie mit Kohle gefärbt, von dem sogar dann ein rußiger Geruch ausgeht, wenn er seine Pfeife nicht entzündet hat.

Jedes Mal wischt Jane diese krausen Gedanken rasch beiseite, hochrot vor Scham.

Abschütteln kann sie sie trotzdem nicht, sie haben sich an ihre Fersen geheftet. Während sie die Sachen der Kinder flickt und sich dabei ertappt, dass sie die Nadel seit geraumer Zeit nicht mehr durch den Stoff bewegt, nur Löcher in die Luft gestarrt und vor sich hingeträumt hat. Zweimal in der letzten Zeit ist ihr sogar das Essen angebrannt, weil sie angestrengt über Männer und Frauen sinniert hat.

Vielleicht wird deshalb Frauen immer abgeraten, sich näher mit der Botanik zu befassen. Wegen solcher Gefühle. Solcher Gedanken und Fragen, die sie untauglich machen für ihre Aufgaben in der Ordnung der Welt.

Trotzdem hört Jane nicht auf, zu lesen und nachzudenken; sie weiß, dass es da jetzt kein Zurück mehr gibt.

Sie wünscht sich nur, sie hätte früher schon solche Gedanken gehabt. Solche Gefühle.

66

Kloster von Ling Chuan Yuan – das Kloster der Heiligen Quelle.

Alle Dinge wurzeln im Himmel, sagt man hier. Das verstehe ich jetzt.

AUS DEN NOTIZEN VON ROBERT FORTUNE

Der hallende Ruf einer bauchigen Glocke vibrierte in Fortunes Brustbein, setzte sich mit bebendem Echo durch seinen ganzen Leib fort und holte ihn sanft aus dem Schlaf. Noch nicht ganz wach, wurde er sich der Leere an seiner Seite bewusst.

Lian fehlte.

Erst nach ein paar Herzschlägen kehrte die Erinnerung zurück. An die in den Fels gehauene Treppe, die an manchen Stelle ins Innere des Gebirges, dann wieder auf direktem Weg in den Himmel zu führen schien. Bis sich der Fels spaltete und den Blick freigab auf das Kloster, das in luftiger Höhe seine geschwungenen Dächer ausbreitete wie ein Adler seine Schwingen.

Lian fehlte.

Auch nach vier Nächten im Kloster, die sie in einer Kammer am anderen Ende des Klosterbaus verbrachte, die die Mönche ihr zugeteilt hatten. Er fragte sich, was sie an diesen Tagen tat, die er mit den Mönchen zwischen den Teepflanzen verbrachte; er stellte sich gern vor, wie sie dann auf einem Felsgrat mit ihrem Schwert tanzte.

Die Nächte unter den Wolken fehlten ihm. Die Nächte unter den Sternen, die hier oben so viel mehr waren, so viel heller und so viel näher. Die Nächte mit Lian.

Nicht allein der Rausch, das Wunder, was ein Mann, eine Frau einander zu geben vermochten, nur das Nötigste an Kleidungsstücken abgestreift und beiseite geschoben, im Schutz einer dünnen Wolldecke und der Dunkelheit. Die Sattheit danach, das ermattete Nachglühen.

Einfach den schweren Zopf ihrer Seidenhaare unter seinen Händen zu haben, ihre Orchideenhaut, wäre genug gewesen. In ihren Duft einzutauchen, herbsüß, wie ein wildes Kraut. Zuzusehen, wie sie die Augen aufschlug am Morgen, der für sie jetzt später kam als früher, nach diesen langen Nächten zu kurzen Schlafes. Die Verwunderung des ersten Moments in diesen Augen zu entdecken, die einem stillen, seligen Lächeln wich.

Das letzte Echo der Glocke verklang zwischen den schnellen Schritten, den Stimmen der Mönche. In die Bergluft, klar und kühlfeucht, nach einer Nacht voller Regen, mischte sich ein frischer, grüner Duft.

Der Tee rief nach ihm.

Fortunes Hand strich über die Teepflanzen, während er durch das Feld schritt.

Umgeben vom unverwechselbaren Duft der Blätter eine überaus sinnliche Erfahrung, die er nur unterbrach, um etwas in seinem Notizbuch festzuhalten, das einer der Mönche ihm erklärte.

Hier im Kloster war Tee mehr als grünes Gold. Eine bestimmte Art zu leben wuchs hier mit dem Tee, eine Art zu glauben und zu beten. Etwas, das man nicht ergründen, nicht verstehen konnte, wenn man nicht Zeuge wurde, wie die Mönche den Tee anbauten und andächtig behandelten und wie sie über ihn sprachen. Wenn man nicht diesen Tee mit ihnen trank.

Jahre hätte er hier verbringen können, ohne den Tee auf die gleiche Weise zu begreifen, wie es die Mönche hier oben taten. Und noch viel weniger würde er in der Lage sein, irgendjemandem zu Hause in Worten oder Skizzen zu vermitteln, was den Tee von Huangshan ausmachte.

Vielleicht spielte das gar keine Rolle, vielleicht musste dieses Geheimnis auch eines bleiben.

Tee war eins mit China, das lernte er hier oben. Und China war für ihn eins mit Lian.

Umso mehr, als sie sich hier im Kloster mit Blicken begnügen mussten, während der Mahlzeiten, auf der steinernen Bank neben der heißen Quelle, die dem Kloster seinen Namen gegeben hatte. Mit Gesten und einem Lächeln, leisen Worten.

Tee. China. Lian. Durch seine Sinne, seine Haut in sein Mark gesickert, in sein Blut gewandert. Vielleicht eine Droge, ähnlich wie Opium, die seine Adern mit einem Gefühl von Frieden füllte. Von Glück.

Jeden anderen Gedanken schob er solange beiseite. Dafür würde noch genug Zeit sein, auf dem beschwerlichen Weg zurück.