67
Von der Mauer des Klosters aus blickte ich über das tiefgrüne Tal, über die Reisfelder und die Teegärten. Hinunter zu Fortune, der in Begleitung zweier Mönche durch die Reihen der Pflanzen ging.
Ein Riese in Grau, der durch dieses grüne Meer pflügte wie ein baiji, ein Delfin aus dem Yangzi Jiang, zwischen zwei Goldfischen,
Während er vollkommen im Gleichgewicht schien, eins mit sich und der Welt, wuchs in mir eine Unrast. Mit jedem Tag, den wir hier verbrachten.
Ein flatterndes Gefühl war es, irgendwo tief in meiner Brust. Wie ein Vogel, der mit den Flügeln schlug, um sich freizukämpfen.
»Frau Lian.«
Hoshang Shun, einer der gut zwei Dutzend Mönche in Ling Chuan Yuan, war zu mir getreten. Ich erwiderte seinen Gruß mit dem Gruß meines Klosters. Seine Augen, groß wie die Kerne des schwarzen Kardamoms, leuchteten unter den ergrauten Brauen auf.
Mit einer halben Drehung machte er einen Ausfallschritt rückwärts und streckte mir seine Handkante entgegen, seine andere Hand aufrecht vor der Brust.
Die Herausforderung war zu verlockend, um sie nicht anzunehmen.
Wie sein Spiegelbild nahm ich die gleiche Haltung ein, und auf einen wortlosen Zuruf hin, den nur wir beide hören konnten, warfen wir uns den Kampf der leeren Hände. Leichtfüßig, mit flinken Fäusten und blitzenden Augen; in feierlichem Ernst, wie es sich gehörte, aber nicht verbissen.
Bis wir atemlos voneinander zurücktraten und uns verneigten.
»Ihr kämpft gut«, sagte ich.
Er lachte, dass sich sein weiches Gesicht in vergnügte Falten legte.
»Nicht annähernd so gut wie Ihr, Frau Lian. Ich kämpfe seit Langem nur noch gegen mich selbst. Um meine Gelenke davor zu bewahren, zu Stein zu werden.«
»Wo habt Ihr den Kampf gelernt?«
»In dem Kloster, in dem ich aufgewachsen bin. In den Bergen der Mysterien und der Höchsten Harmonie. Ich verließ es, als ich gewahr wurde, dass der Weg des Kampfes nicht mein Weg ist.«
In meiner Brust regte sich einmal mehr die Unruhe. Ein Gefühl, das einem Sehnen glich und so stark war, dass es fast schmerzte. Ich legte die Hand auf das Brustbein, wie um diesem Schmerz Einhalt zu gebieten. Um zu spüren, wo genau es wehtat.
Meine Blicke strebten zu den Gipfeln des Huangshan, zu den Wolken hinauf.
Ich vermisste den Kampf. Nicht den einsamen Kampf gegen die eigenen Dämonen.
Den Kampf mit einem Gegner aus Fleisch und Blut vermisste ich. Das Tändeln mit dem Unbekannten, dem Zufall, das oft nur ein Wimpernzucken lang währte. Das Messen der Kräfte, der Geschicklichkeit, von Mut und Ausdauer. Diesen Tanz zu zweit, zu mehreren, im wahrsten Sinn des Wortes auf Messers Schneide.
Das war es doch, was mich ausmachte. Wer ich war.
Mein Blick richtete sich wieder auf Fortune, unten im Teegarten. Undankbar kam ich mir vor, jetzt, da mein Sehnen nach ihm, so lange übersehen, dann nur insgeheim gehegt, erfüllt worden war.
Dabei wusste ich doch, dass ich ihn wieder ziehen lassen musste, bald schon. Es sei denn, er blieb. Oder nahm mich mit, wie eine mudan, wie eine Rose oder ein Teepflänzchen. In einem Kasten aus Glas.
»Bitte sagt mir, Hoshang Shun«, flüsterte ich, »woher weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin?«
»Zweifel sind dazu da, uns vorwärts zu bringen, Frau Lian. Wie die tastenden Schritte auf dem Fels, um sich zu versichern, dass er hält. Doch wenn diese Zweifel nicht verstummen, ihr euch das immer wieder fragen müsst … Ihr wisst es, wenn ihr auf dem richtigen Weg seid. Aus tiefstem Herzen.«
Ich nickte, ein wundes Gefühl in der Brust. Dort, wo der eingesperrte Vogel weiter mit den Flügeln schlug und doch nicht wusste, in welche Richtung er fliegen sollte, käme er frei.
68
Ich beobachtete ihn, wie er auf die Berge hinaussah, die sich jetzt, zur Mittagsstunde, aus den Wolken der Nacht und dem Morgennebel schälten.
Seine Augen folgten einem Greifvogel, der mit gespreizten Schwingen dem Horizont entgegen segelte. Diese Fuchsaugen, eine Weite darin wie die des Himmels über uns.
»In meinem ganzen Leben«, raunte er, »habe ich mich noch nie so frei gefühlt wie hier, in diesen Bergen.«
Seine Worte, schwer von Melancholie, dem hoffnungslosen Wunsch, an der Stelle dieses Greifvogels zu sein, lasteten schwer auf meiner Seele.
In den alten Legenden nahmen die huli jing, die Fuchsgeister, immer die Gestalt von schönen Mädchen an. Vielleicht war es dieses Mal die Gestalt eines Mannes aus der Fremde, der mich verführt hatte, um mich vom rechten Weg abzubringen.
»Aber du bist nicht frei«, flüsterte ich, den Blick auf die Reiskuchen gesenkt, die uns die Mönche von Ling Chuan Yuan zusammen mit Früchten und Beeren als Wegzehrung mitgegeben hatten. »Du hast Kinder, die zu Hause auf dich warten.«
»An was werden sie sich noch erinnern, nach mehr als zwei Jahren? Mein Sohn war noch keine drei Monate alt, als ich fortging.«
»Deine Frau erinnert sich.«
Wolken zogen über den Himmel in seinen Augen, verdunkelten ihn.
»Ja.«
Ich schlug die Reiskuchen in ein Tuch ein und verstaute sie in meinem Bündel. Mein Blick fiel auf den Sack mit Erde und Setzlingen. Auf Fortunes Tasche, prall von den Paketen mit Saatgut darin.
Es war ein bewegender Moment gewesen, als der Abt von Ling Chuan Yuan sie ihm zum Abschied überreicht hatte. Verwittert wie der zerklüftete Fels des Gebirges, hatte sich der alte Mann angeschickt, vor ihm auf die Knie zu gehen. Fortune hatte ihn zurückgehalten, ihn behutsam gestützt und wieder aufgerichtet, und ich liebte ihn umso mehr für diese Geste.
Ich wusste nicht, ob Fortune die Mönche darum gebeten hatte, oder ob sie ihm dieses Geschenk machten, weil er dem Tee so viel Achtsamkeit entgegengebracht hatte in diesen Tagen im Kloster, so viel Zuneigung. Ein überwältigend großzügiges Geschenk war es in jedem Fall, das war uns beiden bewusst. Ein unermesslicher Schatz, der nicht einmal besonders schwer wog. Eine Last auf dem Weg zurück, die ich ihm gern überließ, so freudig, wie er sie trug, fast mühelos.
Es war eine andere Last, an der er schwer trug.
»Könntest du es wirklich tun – nie wieder zurückkehren? Sie ihrem Schicksal überlassen?«
Er griff nach meiner Hand und fuhr mit dem Daumen über die Linien auf der Handfläche. Als könnte er darin die Antworten auf seine Fragen, seine Zweifel finden.
»Ich weiß es nicht. Das Schlimme ist, dass ich mir wünsche, ich könnte es so einfach.«
Ein Ozean lag in seinem Blick, bereit, mich aufzunehmen und fortzutragen. Vielleicht geschah es in diesem Moment, dass ich zur Gänze begriff, was ich ihm bedeutete. Diesem Mann, der meist sparsam war mit Worten, alles Weiche, Sanfte, Fühlende in sich stets nur in Gesten ausdrückte.
Wenn man noch sehr jung ist, wie ich es bei Yun gewesen war, ist Liebe episch und dramatisch, Himmel und Hölle, tian und diyu zugleich. Der andere ist alles, und ohne den anderen ist alles nichts. In diesem Krieg der Herzen, der einen zu Göttern macht.
Erst wenn man eine Weile gelebt, die ersten kleinen Schlachten in diesem Leben geschlagen hat, das erste Mal das Herz zertrümmert bekam, wandelt sich das Wesen der Liebe. Man begreift, wie selten sie ist. Wie kostbar und zerbrechlich. Ein Baum, der langsam wächst und tief in der Erde wurzelt. Man möchte nicht ohne seinen Schatten sein, sollte er einmal gefällt werden. Nicht ohne seine Früchte und ohne das Rauschen seiner Blätter, ohne den Vogelgesang darin.
Ich litt mit ihm, in seiner Zerrissenheit, die auch meine eigene war.
Es war schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren.
»Es ist zweierlei, ob man sich ausmalt, sein altes Leben hinter sich zu lassen, oder wirklich bereit dazu ist.«
Wie viele Leben passten in die irdischen Jahre eines Menschen? Wie wog man zwei Leben gegeneinander ab, ein altes gegen ein neues?
Wie traf man seine Wahl, an einem solchen Scheideweg?
»Es gibt eine Legende«, flüsterte ich, mich einmal mehr an Meister Qiang erinnernd in diesen Bergen. »Mein Meister hat sie mir oft erzählt. Von Ng Mui, der ersten großen Meisterin im Kloster der Alten Haine und Jungen Bäume. Als die Armee der Mandschu das Kloster stürmte, unter Kaiser Kangxi, um zu plündern und zu morden, konnte sie dem Blutbad entkommen. Sie floh, so weit sie konnte. Nach Westen, in das Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen. Auf einem der heiligen vier Berge Buddhas ließ sie sich nieder. Auf dem Berg, der aussieht wie eine erhobene Braue. Ein neues Kloster gründete sie dort, das Kloster des Weißen Kranichs, und benannte danach den neuen Stil des Kampfes, den sie dort entwickelte. Als ich noch sehr jung war, träumte ich davon, mich auf die Suche nach diesem Kloster zu machen.«