»Warum hast du es nicht getan?«
»Ich wusste nicht, ob ich schon bereit dafür war. Es heißt, nur derjenige, der in höchster Not ist, kann dieses Kloster finden. Nur derjenige, der aus tiefstem Herzen bereit ist, alles hinter sich zu lassen und in einem neuen Leben wiedergeboren zu werden, erhält dort Zutritt.«
Ich rutschte näher und schlang die Arme um ihn.
»Falls ich dir je verloren gehe«, murmelte ich an seiner Wange, »kannst du mich dort vielleicht wiederfinden.«
Wir wussten beide, was er darauf sagen sollte.
Etwas wie aus den großen, zu Herzen gehenden Geschichten von Liebenden, die unter keinem guten Stern zusammenfanden. Geschichten, die in meinem Land immer nur mit Trennung oder Tod endeten. Wie bei den Schmetterlingsliebenden oder in der Legende vom Webermädchen und dem Kuhhirten, dazu verdammt, am jeweils anderen Ufer des Silberflusses ihr Dasein zu fristen.
Ich würde dich niemals gehen lassen, hätte er sagen können.
Ich würde dir niemals verloren gehen, wäre meine Antwort vielleicht gewesen.
Beide wussten wir es besser.
Die Schwärze der Nacht tönte sich blau, blutete aus wie ein frisch mit Indigo gefärbtes Kleidungsstück im Wasser. Doch noch hüllten sich die Berge in Dunkelheit.
Auf dieses Zwielicht hatte ich gewartet, die ganze Nacht. Auf diesen Moment zwischen dem Silberlicht der Sterne und dem blauen Morgenhauch. Ich würde es nicht fertigbringen, im hellen Licht des Tages, von Angesicht zu Angesicht.
Ich beobachtete ihn, wie er schlief. In dieser Arglosigkeit, die ihm zu eigen war und die es so selten gab in dieser Welt.
Fortune. Der sanfte Riese aus dem fernen Land.
Der Blütensammler. Xingyun.
Wie er die Brauen im Schlaf zusammenzog, spiegelte die Last wider, die er mit sich trug. Ich musste sie ihm abnehmen.
Er war kein Mann, der Frau und Kinder sich selbst überließ, er war ein zu guter Mensch dafür. Selbst wenn er es nicht wusste oder vergessen hatte – ich wusste es sehr wohl.
Einen solch langen Weg hatten wir zurückgelegt. Seit Shenhu. Seit den Hügeln von Zhoushan.
Durch die Gassen von Shanghai und Canton, über die Felder von Ningbo und Anhui. Durch diese Berge hier, die Berge von Huang.
Einen Weg, der mal der gemeinsame gewesen war, sich dann wieder gegabelt hatte und uns doch nie voneinander trennte. Der rote Faden, der uns aneinanderband, hatte uns immer wieder zusammengeführt. Vielleicht würde er es wieder tun, zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem anderen Ort.
Ich beugte mich vor, so weit, dass ich seinen Atem spüren konnte, ihm meinen entgegenhauchte.
»Lebwohl, Fortune«, wisperte ich. »Finde mich im Kloster des Weißen Kranichs. Auf dem Berg der erhobenen Braue, in dem Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen.«
Er regte sich, als hätten meine Worte ihn erreicht, wo immer er auch gerade war, in seinem tiefen Schlaf.
Ich konnte nicht die Frau im Schatten sein, ich hatte viel zu lange in den Schatten gelebt. Doch wie ein Schatten, ebenso lautlos, ebenso flüchtig, hielt ich meinen Mund an seinen.
Und genau wie ein Schatten verschwand ich in der Morgendämmerung.
69
Blicklos starrte Fortune in die Berge hinaus, in das scharfe Glühen der aufgehenden Sonne.
Er hatte es sofort gewusst. Sobald er die Augen aufschlug und Lian nirgendwo entdeckte.
Seine Hand lag auf seiner Tasche mit dem Saatgut, der Sack voller Setzlinge ruhte daneben. Einige Herzschläge lang war er versucht gewesen, alles an Ort und Stelle zurückzulassen, um ihr nachzugehen.
Es wäre sinnlos gewesen. Selbst ohne diesen Ballast hätte er sie niemals eingeholt. Weil sie flinker war, wendiger, geschickter in unwegsamem Gelände unterwegs.
Mit Bedacht hatte sie gehandelt. Ihn an einer Stelle zurückgelassen, an der er nicht wusste, ob sie den Pfad genommen hatte oder über Felsen geklettert war, die für ihn ein unüberwindliches Hindernis darstellten. An einer Stelle, an der sie abschätzen konnte, dass er auch ohne sie den Weg zurück ins nahe Tal finden würde.
Vielleicht hatte er immer gewusst, dass es so enden würde. Genauso gut hätte er versuchen können, den Wind aufzuhalten oder die Wolken zu fangen.
Seine Glieder fühlten sich kraftlos an, als er sich erhob, sein Gepäck schulterte und den Weg bergab einschlug.
Die Last auf seinen Schultern war nichts gegen das Gefühl der Schuld, das ihm im Nacken saß. Die Schuld Jane gegenüber, die zu Hause auf ihn wartete. Die Scham, wenn er an seine Kinder dachte. An diese kleinen Wunder; göttliche Schöpfungsfunken, in der Dunkelheit von Janes Leib sicher herangewachsen, bis eine Urgewalt sie ans Licht der Welt geholt hatte. Die ihn seit dem ersten Moment ihres Lebens am Herzen gepackt hielten und daran rissen, wenn sie weinten, während ihr Lachen ihn mit Freude überschwemmte.
Zäh wie Lava war der Zorn, der zu schwerfällig in ihm brodelte, als dass er hervorbrechen konnte, gefangen in einem Abgrund der Traurigkeit. Das Gefühl, zu lange gewartet, zu lange gezögert zu haben.
Nichts wog schwerer als das Wissen, Lian verloren zu haben.
Es ist einer der seltenen warmen und sonnigen Tage in diesem Frühsommer.
Jane sitzt mit einem Buch im Garten der Lindleys. Ein Buch über Botanik ist es, die nach wie vor keine übergroße Begeisterung bei ihr auslöst, mit der sie sich dennoch gerne beschäftigt. Wegen ihrer Schreibtätigkeit für Mr Lindley, wie sie sich vordergründig selbst sagt. Doch viel mehr üben die Gedanken eine Faszination aus, die sich bei der Lektüre in ihr entwickeln und dann frei umherstreifen. Die Parallelen, die sie dabei zu den Menschen ziehen kann.
Immer wieder schielt sie über die Seiten hinweg zu Miss Lindley, die ebenfalls liest, inzwischen einfach Sarah für sie ist und Jane ebenfalls beim Vornamen nennt. Zu Ducky, die, einen Skizzenblock auf den Knien, mit dem Bleistift die Bewegungen der umhertollenden Kinder einzufangen versucht.
Eine Stunde köstlichen Müßiggangs, die sich die drei Frauen nach dem Mittagessen gegönnt haben, bevor es wieder an die Arbeit geht. Bevor es doch wieder tagelang nur regnet.
Einmal mehr fragt sich Jane, ob Sarah und Ducky auch solche Gedanken kennen, wie sie Jane im Kopf herumgehen. Solche Sehnsüchte und Gefühle, die sie derzeit umtreiben. Solche Fantasien und Träumereien.
Sie traut sich nicht, die beiden danach zu fragen, so gut kennen sie einander noch nicht. Verlegen beugt sie sich tiefer über das Buch.
Doch sie kann die gedruckten Buchstaben nicht in sich aufnehmen, sie entgleiten ihr vor den Augen.
Jane ist wütend. Darüber, dass wohl niemand auf die Idee käme, solche Gedanken und Fragen bei einem Mann unziemlich zu finden. Auf die Möglichkeiten, die Männer haben, all diese Dinge zu lernen und zu studieren und noch viele, viele weitere mehr. Die Möglichkeit, allein bis ans Ende der Welt zu reisen. Wie Robert.
Während sie, die immer zufrieden gewesen ist mit der Ordnung der Welt, ihren Aufgaben als Frau und Mutter, ihrem eigenen kleinen Leben, plötzlich überall an Grenzen stößt, die zuvor noch nicht da gewesen sind.
»Warum sind es immer die Männer«, rutscht es ihr heraus, »die die Dinge der Welt erforschen? Die Großes entdecken und auf weite Reisen gehen? Nie Frauen?«