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Sie selbst hätte dafür nicht den Mut und die Kraft aufgebracht, das weiß sie. Zumal sie weder eine außergewöhnliche Begabung besitzt noch für etwas wirkliche Leidenschaft empfindet.

Trotzdem fühlt sie sich bestärkt, wenn sie an Mary Anning denkt. Bestärkt in ihrem eigenen kleinen Leben, den neuen Wegen, die sie sich darin gebahnt hat.

Sie schaut zu den Kindern hinüber.

Die schweren Wolken am Himmel, der kalte Wind scheinen sie nicht zu stören. Gut eingepackt in ihre Mäntel, spielen sie mit den anderen Kindern am Strand, stapfen in ihren festen Schuhen durch den feuchten Sand und suchen nach Muscheln und Steinen.

Vielleicht wird Helen sich einmal auf einem bestimmten Gebiet auszeichnen. Eine besondere Leidenschaft entwickeln und sich durch keine noch so großen Widerstände davon abhalten lassen, sie auszuleben. Rousseau einmal Lügen strafen und damit aufräumen, dass Frauen sich nicht theoretischeren und abstrakten Aspekten der Botanik aussetzen sollten, weil sie nicht die notwendigen Fähigkeiten für exakte Wissenschaften besäßen, nicht belastbar genug wären.

Und wenn nicht Helen, dann vielleicht deren Tochter oder Enkelin.

Jane muss an einen Baum denken, der irgendwann blüht, irgendwann Früchte trägt, alles zu seiner eigenen Zeit.

 

 

 

Als Jane einen Blick auf sich gerichtet spürt, wendet sie den Kopf.

Ein Spaziergänger ist es, der sie lächelnd beobachtet. Kein junger Mann mehr, mit seinen angegrauten Schläfen, aber auch noch nicht wirklich alt und solide gekleidet.

Jane runzelt die Brauen und duckt sich unter ihre Hutkrempe, streicht unwillkürlich den Rock über den Beinen glatt. Als sie kurz darauf den Blick wieder hebt, sieht er im Gehen immer noch zu ihr hin, tippt jetzt an seinen Hut. Gut sieht er aus, auf eine stämmige, etwas eckige Art.

Jane wird rot. Mit knapper Höflichkeit nickt sie und schlägt betont brüsk ihr Buch auf. Ihr Herz klopft trotzdem, wie freudig.

Es geht nicht um diesen Fremden. Nicht darum, dass sie gesehen wird. Als Person, als Frau.

Sondern darum, dass sie sich selbst so empfindet.

Plain Jane. Die sich durch eine Wildnis von Gedanken und widerstreitenden Gefühlen gekämpft und darin ein Land des Geistes entdeckt hat, das ihr unbekannt gewesen war. Die Welt in ihrem Innern ist größer geworden. Reich und blühend, scheint diese Innenwelt immer wieder durch. In Janes Auftreten. Einem Blick von ihr. In den Worten, die sie äußert. In ihrem alltäglichen Handeln, mag dieses auch noch so banal, so gewöhnlich sein.

Sie ist jemand, in ihrem eigenen kleinen Leben.

Auch ohne Robert.

 

 

 

Ein Sonnenstrahl bricht durch den Wolkenteppich und lässt den schmalen Goldreif an ihrem Finger aufleuchten.

Natürlich denkt sie an Robert. Viel und oft.

Obwohl seine Züge in ihrem Gedächtnis von der Zeit etwas ausgewaschen sind. Die in den Kindern immer wieder aufschimmern und gleich wieder davongleiten. Seine Stimme, all die kleinen Gesten, die ihr vertraut waren.

Der Mensch aus Fleisch und Blut ist zu einer abstrakten Idee geworden.

Robert. Mein Mann. In China.

 

 

 

Jane ist bang, dass er nie wieder zu ihr zurückkehren wird.

Ihr ist bang, wie es sein wird, wenn er zurückkehrt.

71

An aufgeklappte Fächer erinnerten die Segel auf dem Fluss, manche rot, viele gelb, die meisten von der Farbe brauner Eier oder in gealtertem Weiß.

Wie ein brodelnder Ozean umspülten Fortune die Leiber der Lastenträger, ihre Stimmen Wellen, die sich hoch über ihren Köpfen schäumend brachen, um sich wenig später erneut zu überschlagen. Die Geschäftigkeit, mit der sie über die Anlegestelle eilten und die wartenden Dschunken mit Säcken voller Getreide und Reis und Bohnen beluden, machte Fortune beinahe seekrank. Die vielen Tage, die er auf einem Ochsenkarren durch Anhui gerumpelt war, steckten ihm noch in den Knochen.

Vom Kai aus sah er zu, wie Wang die Seeleute anherrschte, auf welche Weise sie die Kisten mit Pflanzen an Deck anzuordnen und zu sichern hatten. Obwohl er fürchtete, Wangs Wichtigtuerei könnte zu viel Aufmerksamkeit auf ihre Fracht ziehen, mischte er sich nicht ein. Er hatte gelernt, Wang zu vertrauen, wenn es um die Feinheiten von mianzi ging: das Gesicht, das man in den Augen der chinesischen Welt hatte. Das um keinen Preis beschädigt werden oder gar verloren gehen durfte, sondern möglichst groß und glänzend zu sein hatte.

Wenn es in seinem Fall auch ein geborgtes Gesicht war: das eines Edelmannes aus den fernen und fernsten Provinzen. Das geliehene Gesicht des fiktiven Xinghua.

Trotzdem rann es Fortune heiß den Nacken hinab, wenn ihn die Lastenträger im Vorübereilen musterten. Sobald die Männer an Bord der Dschunke ihre Blicke für einen Moment von den Pflanzenkisten hoben und zu ihm hinüberwandern ließen.

Das Gefühl von Sicherheit, das ihn in Anhui eingehüllt hatte wie eine warme Decke, umgeben von den vertrauten Gesichtern wohlmeinender Menschen im Haus der Wangs, im Dorf und auf den Feldern, war auf der Fahrt über holprige Straßen nach und nach von ihm abgefallen wie loser Putz. Übriggeblieben war die nackte Furcht vor argwöhnischen Fremden, die seine Tarnung durchschauten. Vor misstrauischen Gesetzeshütern, die ihn wegen Schmuggels verhafteten. Aufatmen würde er erst, sobald die Teepflanzen und das Saatgut an Bord eines Schiffes die chinesische Küste hinter sich gelassen hatten.

Zwischen den ehemals weißen oder blauen Tüchern, die sich die Seeleute um den Kopf gebunden hatten, leuchtete immer wieder ein schmutziggelbes auf: das des tung-chia, des Kapitäns, wie Fortune annahm. Ein unsteter Farbfleck in der Betriebsamkeit an Deck, der jetzt jedoch neben Wang zur Ruhe kam. Gründlich nahm der tung-chia die Pflanzenkisten in Augenschein, richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Fortune und bewegte sich auf ihn zu, mit den tänzelnden, geschmeidigen Barfußschritten eines Mannes, der schwankenden Boden gewohnt ist.

Schweiß troff in den Kragen von Fortunes Übergewand.

»Seid gegrüßt, verehrter Herr.« Ein sehniges Männchen war der tung-chia, mit seiner Lederhaut von unbestimmbarem Alter. »Es ist mir eine Ehre, Euch mit meinem jämmerlichen Kahn nach Shanghai geleiten zu dürfen. Wenn Ihr mir Eure persönliche Habe anvertrauen wollt, so sorge ich dafür, dass sie unter Deck gebracht wird, in Euer Quartier.«

Zögernd streifte Fortune den Gurt seiner Botanisiertrommel ab und übergab sie dem tung-chia, der sie an einen seiner Matrosen weiterreichte, ebenso die Tasche mit dem Saatgut und sein dickes Reisebündel.

Nur widerstrebend löste der tung-chia seine Augen von Fortunes Flinte und deutete ein verlegenes Lächeln an.

»Verzeiht mein ungebührliches Verhalten, werter Herr«, erklärte er. »Aber ich kam nicht umhin, Eure Feuerwaffe zu bewundern. Machtvoll sieht sie aus. Gewiss habt ihr reichlichen Vorrat an Pulver und Kugeln?«

Fortune dachte an die Keilerjagd in den Wäldern von Tiantung; er konnte sich nicht vorstellen, was er hier auf dem Fluss für den Kapitän wohl schießen sollte.

»Weshalb fragt Ihr?«

»Die Gewässer weiter im Osten werden von hai dao heimgesucht.«

»hai dao

Das sonnengegerbte Gesicht des tung-chia verzog sich kummervoll.

»Unsere größte Sorge hier auf dem Fluss. Schlimmer noch als jeder Taifun. hai dao nehmen alles mit, was sie auf ihre Schiffe laden können, und stecken dann die geplünderte Dschunke in Brand. Und wen sie nicht getötet haben, den halten sie als Geisel, um Geld zu erpressen. Eine Plage, gegen die wir uns kaum zur Wehr setzen können. Denn die Mandarine erlauben uns keine Feuerwaffen.«