Als sich der Blick dieses fremden Teufels auf mich richtete, lief ich fort.
6
Sie war wieder da.
Am nächsten Tag, ein Stück weiter den Fluss hinauf.
Fortune fragte sich, ob sie wohl irgendeinen Dank oder Lohn von ihm erwartete, dafür, dass sie ihm in Chimoo aus seiner Notlage herausgeholfen hatte.
Doch sie machte keine Anstalten, sich ihm zu nähern. Eine Forderung zu stellen oder auch nur eine Bitte.
Er wusste nicht, wie er von sich aus seinen Dank anbieten konnte. Die Stolpersteine der fremden Sprache hemmten ihn; es entsprach ihm auch nicht, zusammenhanglose Wortbrocken über die Wiese zu brüllen. Er suchte ihren Blick, um eine Verbindung herzustellen. Nickte ihr kurz zu. Blickte fragend drein.
Sie saß einfach nur da und beobachtete ihn.
Reglos.
Auch am Tag darauf ließ sie ihn nicht aus den Augen, während er sich mit Clerodendrum indicum beschäftigte.
Der kalte Schweiß brach ihm aus bei dem Gedanken, sie könnte ihn aus den Händen der geldgierigen Raufbolde befreit haben, um danach selbst zuzuschlagen und die Beute für sich allein zu beanspruchen.
Er erinnerte sich gut daran, wie schnell sie gewesen und wie geschickt sie mit der Klinge des Schwerts umgegangen war. So schnell, dass er vermutlich keine Chance hätte, auch nur nach seiner Pistole zu tasten, geladen oder nicht.
Er hätte Wang bitten sollen, mitzukommen. Und sei es nur als Dolmetscher, der herausfand, was das Mädchen von ihm wollte.
Dieses Mädchen, dessen Haltung Wachsamkeit ausstrahlte. Fast misstrauisch wirkte sie; womöglich hatte er sie in ihrem Schlupfwinkel aufgestört, und sie traute ihm genauso wenig wie er ihr.
Er schalt sich einen Narren, der Gespenster sah, und bückte sich tiefer über das Purpur der fleischigen Seesternblüten.
Keinen Schritt näherte sich ihm das Mädchen.
Nie richtete sie das Wort an ihn oder langte nach dem Griff ihres Schwerts.
Sie schien sich damit zu begnügen, ihm zuzusehen.
An jedem einzelnen Tag, den er sich methodisch durch die Landschaften der Insel vorarbeitete. In seinem eigenen gemächlichen Rhythmus die Pflanzen betrachtete, untersuchte und vermaß. Besonders schöne Exemplare erntete er, um sie zu konservieren. Andere grub er behutsam aus, die in Glaskästen wieder wurzeln und die Schiffsreise in ihre neue Heimat antreten sollten.
Es war ihm unangenehm, einen Zuschauer zu haben. Als wäre er wieder ein Lehrling, dem der Meister peinlich genau auf die Finger schaute.
Er gewöhnte sich daran.
Eine stille Präsenz am Rande seines Gesichtsfelds war das Mädchen, unaufdringlich wie ein Grashalm.
Fortune war Gärtner, er hatte Geduld.
7
Diese zufällige Fügung ließ mir keine Ruhe.
Deshalb fand ich mich immer wieder hier ein, Tag um Tag. Meile um Meile, die dieser fremde Teufel nach und nach weiter über die Insel zog.
Ich beobachtete ihn, wie er mit ruckendem Kopf suchend über die Wiesen stolzierte. Wie ein Kranich, nur dass ihm die Eleganz dieses Vogels fehlte, dafür war er zu kräftig. Von einer Kraft, die allein in seinen langen Armen und Beinen saß und nicht aus seiner Mitte kam. Wenn er sich zusammenfaltete, um im Gras in die Hocke zu gehen, erinnerte er mich an eine Heuschrecke.
Anfangs dachte ich, er müsste wohl ein Magier sein, auf der Suche nach zauberkräftigen Kräutern. Obwohl er nicht alt war und keinen weißen Bart hatte.
Doch was wusste ich denn schon von den Magiern des Westens?
Trotzdem glaubte ich auch nicht, dass er ein Arzt war. Er kostete nie von den Wurzeln, den Blättern, schnupperte nur hin und wieder an den Blüten.
Ich war fasziniert von dem Staunen, mit dem er diesem kleinen Kosmos begegnete. Während ich nie den weiblichen Sinn für Blumen gehabt hatte. Pflanzen nur danach beurteilte, was davon mich nährte und was mich vergiften würde. Was Husten linderte und was eine Wunde schneller heilen ließ.
Erst nach einigen Tagen verstand ich, dass er die Pflanzen um ihres Wesens willen studierte. Wegen ihrer Schönheit. Obwohl er ein Mann war, und ein noch junger dazu.
Die Art, wie er die Blätter berührte, die Blüten betrachtete, erinnerte mich so sehr an den alten Anshin, dass es mich bis ins Mark traf. Ich konnte nicht mehr atmen vor Heimweh.
Trotzdem kam ich am nächsten Tag wieder.
Und an allen anderen Tagen darauf.
Um mehr von dieser schmerzlichen, dieser schönen Erinnerung zu kosten, die mir der fremde Teufel zurückbrachte, ohne dass er davon wissen konnte.
Die Erinnerung an das zweite Zuhause, das ich gehabt hatte. Das zweite, das ich verloren hatte.
Durch meinen Eigensinn. Mein Aufbegehren. Meine Gier nach Freiheit.
Jeden Tag kam ich, um noch ein wenig in diesem Gefühl von Zuhause zu verweilen.
Mag sein, dass ich deshalb nach und nach den sicheren Abstand zu ihm verringerte.
8
Ihre Augen folgten ihm bei jeder seiner Bewegungen.
Wachsam, immer noch. Aber mit schwindendem Argwohn, dafür wachsender Neugierde.
Eine Neugierde, die Fortune teilte.
Er fragte sich, wie sie wohl hieß. Wer sie war, wo sie schlief, wovon sie lebte. In diesem Land, in dem er höchstens einmal eine Bauersfrau in ihrem Gärtchen zu Gesicht bekam. Eine Greisin, die halb blind einen Marktstand bewachte. Sehr kleine Mädchen, ein noch kleineres Geschwisterkind auf den Rücken gebunden oder einen Korb mit Obst auf dem Kopf balancierend, der viel zu schwer aussah.
Kein Mädchen irgendwo zwischen Kind und Frau, das in weiten Hosen und wattierter Jacke allein durch die Wildnis streifte. Das ein Schwert mit sich führte und ungerufen einem fan-kwai in Bedrängnis zu Hilfe kam.
Seine Gewohnheit, leise mit den Pflanzen zu sprechen und vor sich hinzumurmeln, wenn er Notizen machte, nahm er wieder auf; das Mädchen verstand ihn sowieso nicht.
Vielleicht war es das Schweigen des Mädchens, das seine Zunge löste. Oder wie sie, kaum merklich, näher an ihn heranrückte, jeden Tag ein bisschen mehr. Ihm damit zu verstehen gab, dass sie langsam Vertrauen fasste, jeden Tag ein bisschen mehr.
Sogar Dinge, die ihm dabei durch den Kopf gingen, sprach er aus. Eine Eigenart, die er während seiner Lehrzeit aufgegeben hatte, um nicht als wunderlich zu gelten.
»Wie Sommersprossen, diese purpurnen Sprenkel auf der Innenseite des Blütenkelchs. Feiner, als eine Menschenhand sie je mit dem Pinsel auftragen könnte. Eine Campanula punctata. Erstaunlich, dass sie hier noch blüht, so spät im Jahr. Und dann auch noch in reinstem Weiß. Bei uns sind sie rötlich eingefärbt, und im August ist es schon vorbei damit. Ob es sie hierzulande auch in anderen Farben gibt? Ich mag Glockenblumen sehr. Eine zurückhaltende, bescheidene Schönheit, die in der Masse durch ihre Farbe wirkt. Aber erst wenn man sie einzeln genauer betrachtet, entfaltet sich das ganze Wunder.«
Zu Hause in England hätte er sich nie auf diese Weise geäußert.
Die Botanik war die unmännlichste aller Wissenschaften, anders als die Zoologie, die Paläontologie oder die Geologie. Lehrreich, gewiss, vor allem aber erbaulich und feinsinnig.
Harmlos. Feminin.
Weil Pflanzen von zerbrechlicher Lebendigkeit waren, hatte Fortune oft gedacht. Nichts, was man erst aus Stein herausmeißeln musste wie Trilobiten und Ammoniten. Nichts, was gejagt und geschossen und ausgestopft werden konnte.
Es waren kleine Mädchen und Ladys jeden Alters, die Blumen pflückten und pressten und in Herbarien klebten. Poeten priesen den Zauber, der von einer Blume ausging, und feinsinnige Gentlemen verehrten ihren Angebeteten Sträuße, in denen nach den Vokabeln der Floriografie jeder Blüte, jeder Farbe eine eigene Bedeutung zukam.
Erst die harte körperliche Arbeit in den Gärten verlieh der Pflanzenkunde einen Zug von Männlichkeit. Das maskuline wissenschaftliche Ritual des Sezierens, Kategorisierens und Experimentierens. Die Seltenheit einer Pflanze bestimmte in Männeraugen ihren Wert. Die Anstrengungen, die es kostete, sie zu beschaffen, zu halten und zu vermehren, ließen sich in der männlich dominierten Welt des Geldes berechnen.