Zwischen zwei Leben schwebte er, in dieser Koje, dieser Nacht. Zwischen zwei Welten.
Jenseits von Gestern, Heute und Morgen, in einem Moment der Unendlichkeit.
Irgendwo zwischen Wirklichkeit und Traum.
73
Das Herz, das zurückkehrt, ist wie der Flug eines Pfeils, sagt man.
Doch ich kehrte nirgendwohin zurück, und mein Weg war lang und beschwerlich.
Nach Westen führte mich dieser Weg. Durch das Land nördlich des Großen Sees, des Sees der Drachenboote und der kleinen Wale, die man jiangtun, Flussferkel, nannte. Dorthin, wo einst die Wiege des Reises stand, der unsere Schüsseln füllte. Durch den Wald der Steinsäulen und den Wald der Roten Bäume. Durch das Land des Nachtregens und durch die Drei Schluchten des Yangzi Jiang, wo so viel Wasser wie aus tausend Meeren zwischen den Klippen hindurchfloss. Ich durchquerte Felder von Weizen und Gerste, Süßkartoffeln und Bohnen. Gegenden, in denen die Menschen davon lebten, Singvögel zu fangen und zu verkaufen, und von Pfauenfedern, Edelsteinen, Messing und Moschus.
Ich kam durch die Dörfer der Wa, deren Frauen bunte Kopftücher trugen, deren Männer scharfen Schnaps brannten und wo man einen Büffel, ein Schwein oder ein Huhn schlachtete, um die Götter gnädig zu stimmen. Die Frauen der Derung trugen nur Schwarz und Weiß und ritzten sich mit Tinte Muster in ihre Gesichter, und bei den Mosuo waren die Frauen frei, ihre Männer zu wählen, die sie nur für Liebesnächte im Haus behielten und am anderen Morgen wieder wegschickten.
Durch das Land der Nüsse, des kostbaren Holzes und der wilden Pilze wanderte ich und durch die Gegend, wo der noch junge Yangzi Jiang, der Lantsang und der Nujiang ein Stück ihres jeweiligen Laufes nebeneinander herströmten.
Über weite Ebenen mit Feldern und Weiden führte mich dieser Weg, durch Täler und über Hügel. An den Ufern mächtiger Ströme entlang, an Seen und durch tiefe Schluchten, in Sonne und Regen und Wind und Nebel.
Den ganzen Sommer hindurch. Im Rot und Gold und Kupfer der herbstlichen Bäume. Im ersten kalten Hauch des nahen Winters.
Die Jahreszeiten lösten sich auf, als ich in die Berge hinaufstieg. Den Wolken entgegen, in ihre Kühle hinein.
Hell und Dunkel, Wachen und Schlafen waren alles an Zeit, was ich noch maß. Mein Herzschlag, mein Atem. Jeder Schritt, den ich ging, höher und höher hinauf.
Am Fuß des Berges war ich mir so sicher gewesen, dass er wirklich ausgesehen hatte wie eine erhobene Braue, und auch an den vier Flüssen, die im Kreis fließen, war ich vorbeigekommen.
Je höher ich stieg, desto größere Zweifel plagten mich. Die Angst, auf diesem Weg zu scheitern, weil ich doch noch nicht so weit war.
Umkehren konnte ich nicht, dafür würde meine Kraft nicht mehr reichen. Also marschierte ich verbissen weiter, den schmalen, steilen Pfad hinauf, der kaum mehr war als eine lange Kerbe in der Flanke aus Stein.
Mein Wille war es, der mich vorwärts trieb. Der feste Glaube daran, dass ich mein altes Leben hinter mir gelassen hatte; ich konnte doch spüren, dass ich ein neues Leben in mir trug!
Es begann zu schneien. Vielleicht waren es auch gar keine Schneeflocken, sondern Frühlingsblüten, die mich umtanzten und über meine glühenden Wangen strichen, ich wusste es nicht.
Ein Schatten türmte sich über mir auf, dunkel und ausladend; ich konnte nicht erkennen, was es war.
Ich schleppte mich weiter vorwärts, einen müden Schritt nach dem anderen. Ich wäre verloren, bliebe ich auch nur ein einziges Mal stehen.
Der Schatten über mir dehnte sich aus. Wie die Schwingen eines Vogels. Wie Arme, zum Willkommen ausgebreitet.
Wie das geschwungene Dach eines Tempels. Eines Klosters.
Meine Beine, die schwer waren, so schwer wie mein Leib, gaben nach. Ich fiel auf die Knie, in den Blütenschnee hinein, spürte dem Zucken und Flattern in mir nach, wie Schmetterlingsflügel.
Fortune hatte ich seine Last abgenommen; seither trug ich meine eigene.
Ich war dankbar für all die Geschenke, die er mir gemacht hatte. Wie er meinen Blick für die Schönheit der Welt öffnete. Mir eine neue Sicht auf das Leben gab. Wie er mich liebte und mich ihn lieben ließ. Eine neue Wirklichkeit schenkte er mir, die einer Art von Magie gleichkam. Den Mut, diesen Weg jetzt zu gehen und meinen alten Traum wahr werden zu lassen.
Bis hin zum letzten Geschenk. Dem Schönsten. Dem Größten. Ein Teil von ihm, der zu einem Teil von mir geworden war. Der fortleben würde und mir niemals mehr verloren gehen konnte.
Stimmen flogen mir entgegen. Durch die Schneeblüten vor meinen Augen sah ich Wirbel in Schwarz und Weiß; ein Segeln, ein Gleiten wie von einer Schar Kraniche. Wie die Gewänder von Mönchen und Nonnen.
Ich blickte in lächelnde, in besorgte Gesichter; freundliche Hände halfen mir auf die Füße, stützten und hielten mich. Unter der heißen Träne, die aus meinem Augenwinkel rann, lächelte ich.
Ich war zu Hause.
Finde mich, Fortune.
Auf dem Berg der erhobenen Braue, im Land, wo vier Flüsse im Kreis fließen.
Im Kloster des Weißen Kranichs.
… dennoch hege ich Hoffnung auf ein Einvernehmen zwischen diesen beiden Nationen, auf eine Versöhnung. Nichts kann dem chinesischen Volk eine bessere Idee von unserer Zivilisation und ihren Fähigkeiten vermitteln als unsere Liebe zu den Blumen. Nichts könnte besser dazu geeignet sein, um ein Gefühl zu bekommen, jeweils für sie als auch für uns.
Robert Fortune
Als wäre er von den Toten wiederauferstanden, werden die Leute sagen, so lange war er fort, und so wird es sich auch anfühlen, für Robert Fortune.
Wie nimmt man ein Leben wieder auf, das man drei Jahre zuvor zurückgelassen hat?
Ein Wiedersehen wird den Anfang machen. Ein Wiedersehen mit England. Mit Jane.
Mit Helen, die kein ganz kleines Mädchen mehr sein wird, sondern schon ein Schulmädchen, fröhlich, aufgeweckt und selbstbewusst, in manchen Momenten fast schon die junge Dame erahnen lässt, die sie einmal werden wird. Mit John, schon lange kein Baby mehr, sondern ein strammer kleiner Junge von drei Jahren, meist ruhig und in sich gekehrt und nur selten dickköpfig.
Als ein Fremder wird Fortune in das Cottage zurückkehren, in dem er einmal zu Hause gewesen war. Fremd sich selbst, im Leib und in der Seele. In der Sprache, den alltäglichen Lebensgewohnheiten. Ohne den Zopf aus Pferdehaar, das eigene Haar nachgewachsen, in seiner Gärtnerkleidung, einem Anzug.
Wie flickt man die Bande, die nie wirklich abgerissen sind, aber brüchig, nur noch an einer feinen Faser zusammenhalten?
Die Zeit hilft dabei. Die Vertrautheit des früheren Lebens, die immer stärker ist, mehr Gewicht hat als alles Neue, alles aus der Fremde Mitgebrachte.
Veränderung hilft.
Für Fortune wird es neue Aufgaben geben, als Kurator des Chelsea Physic Garden, mit einem höheren Gehalt und einem Haus auf dem Gelände des Botanischen Gartens; Jane wird den größeren Garten bekommen, von dem sie immer geträumt hat.
Im Rhythmus des alten, des neuen Alltags werden Robert und Jane die Fäden ihres Ehetuchs wieder zusammenknüpfen, das seine lange Abwesenheit aufgelöst hat. Ein Kind wird empfangen und geboren werden, allzu früh beweint und begraben. Ein neuer Riss wird sich auftun, im Tuch dieser Ehe, und dann umso fester gestopft werden.
China wird mehr und mehr wie ein Traum erscheinen. Fortune wird darüber schreiben, zusätzlich zu seinen Berichten für die Horticultural Society und wissenschaftlichen Artikeln, die ihm Ruhm einbringen.
Einen Reisebericht wird er verfassen, der den Nerv dieser Zeit trifft. Der den Hunger nach fernen Ländern stillt, die die Fantasie schon so lange beschäftigen, die Gier nach Exotik, nach Abenteuern im Lesesessel.
Die Pflanzen, die er mitgebracht hat, werden in Chiswick gedeihen und blühen und in Kew, genau wie die Teepflanzen in Calcutta.
Doch weil es eine Epoche der Unersättlichkeit ist, wird es nicht genug sein. Die Horticultural Society wird mehr wollen. Mehr von diesen außergewöhnlichen, betörend schönen Pflanzen. Mehr Tee.