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Cynthia überlegte sorgfältig; sie hatte gehofft, ihre eigene Autorität als Commissioner würde genügen. Bevor sie einen der drei Genannten fragte, würde sie die möglichen Folgen abwägen müssen.

Beim Hinausgehen erkundigte sie sich beiläufig: »Das meiste Zeug liegt wohl ziemlich lange hier?«

»Viel zu verdammt lange«, beschwerte Iacone sich. »Das ist mein größtes Problem.«

»Wie alt ist das älteste hier lagernde Beweismaterial?«

»Das weiß ich ehrlich nicht. Aber viele Sachen befinden sich seit zwanzig Jahren hier, manche auch schon länger.«

Noch während der Captain das sagte, traf Cynthia ihre Entscheidung in bezug auf die Freigabeerklärung. Sie würde keine einholen. Von Brewmaster wäre sie am leichtesten zu bekommen gewesen, aber auch er konnte Fragen stellen. Newbold hätte bestimmt die beiden anderen gefragt. Und was Ainslie betraf... er war der kreative Denker; er konnte jeden Vorwand durchschauen.

Unternahm sie andererseits gar nichts, konnten diese Kartons hier noch zwanzig oder mehr Jahre stehen, ohne geöffnet zu werden. Deshalb würde sie es riskieren, vorläufig alles, auch den wichtigen Karton mit Belastungsmaterial, hier zu belassen.

Was die fernere Zukunft betraf - allerdings nicht einmal sehr fern, wenn sie genauer darüber nachdachte -, mußte Cynthia sich um wichtigere Dinge kümmern.

Sie hatte vor, Oberbürgermeisterin von Miami zu werden.

Lance Karlsson, der jetzige Amtsinhaber, hatte bereits angekündigt, sich in zwei Jahren nicht wieder zur Wahl stellen zu wollen. Daraufhin hatte Cynthia beschlossen, seine Nachfolgerin zu werden. Auch wenn vielleicht ein weiterer Commissioner für dieses Amt kandidierte, traute sie sich zu, gegen jeden zu gewinnen. Die Zeit war reif für eine Oberbürgermeisterin; heutzutage waren sogar Männer mit der Amtsführung anderer Männer in wichtigen Positionen unzufrieden.

Als Oberbürgermeisterin würde Cynthia denkbar größten Einfluß im Police Department haben. In dieser Funktion könnte ihre Stimme entscheiden, wer nächster Polizeipräsident wurde und wer in die Führungsspitze der hiesigen Polizei aufrückte. Vor einer Oberbürgermeisterin kuschten alle, und mit solcher Autorität würde sie die Kartons - auch diesen einen, auf den es ihr wirklich ankam - mühelos aus der Asservatenkammer herausbekommen.

Laß das Zeug also vorläufig stehen.

»Danke für alles, Wade«, sagte sie, als Iacone sie hinausbegleitete.

In den folgenden dreieinhalb Monaten bis Elroy Doils Hinrichtungstermin fühlte Cynthia ihre innere Unruhe wachsen. Während die Tage und Wochen unendlich langsam verstrichen, erkannte sie, daß erst Doils Tod auf dem elektrischen Stuhl garantierte, daß die Ermittlungen wegen der ihm zugeschriebenen zwölf Serienmorde abgeschlossen wurden. Obwohl Doil nur wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone angeklagt und verurteilt worden war, schien keiner der bei Polizei und Staatsanwaltschaft Zuständigen daran zu zweifeln, daß auch die übrigen fünf Doppelmorde - einschließlich des Mordes an Gustav und Eleanor Ernst - auf sein Konto gingen.

Wer wußte also, daß Doil diese beiden Morde nicht verübt hatte?

Diese Frage stellte Cynthia sich eines Nachts, als sie in ihrem Apartment allein war. Die Antwort: sie selbst, Patrick Jensen und der Kolumbianer. Das waren bereits alle - nur drei Menschen.

Aber... strenggenommen waren es vier, wenn man Doil mitzählte, überlegte sie sich. Trotzdem spielte das eigentlich keine Rolle, weil ihm niemand geglaubt hätte, wenn er diese Tat geleugnet hätte. Vor Gericht hatte er alles abgestritten: nicht nur an sich unbedeutende Kleinigkeiten, sondern selbst seine Anwesenheit im Haus der Tempones, vor dem er verhaftet worden war.

Und noch etwas anderes: Was Doils Hinrichtung betraf, ließ sie nicht etwa einen Unschuldigen in den Tod gehen, indem sie schwieg und nichts unternahm. Doil hatte diese anderen Morde verübt und verdiente es, dafür auf den elektrischen Stuhl zu kommen. Da er ohnehin für dieses Ende bestimmt war, konnte er Cynthia und Patrick ebensogut den kleinen Gefallen tun, ihre Last mitzutragen. Nur schade, daß sie sich nicht dafür bedanken konnten!

»Nichts ist so fein gesponnen...« Daran mußte Cynthia oft denken, während sie ungeduldig darauf wartete, daß die Hinrichtung endlich stattfand, damit sie eine neue Seite in ihrem Leben aufschlagen konnte.

Seit einiger Zeit ging Cynthia jetzt wieder gelegentlich mit Patrick Jensen aus oder ins Bett, und in diesen letzten Wochen war sie sogar noch häufiger mit ihm zusammen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß das nicht unbedingt klug war, aber sie hatte manchmal das Bedürfnis nach Gesellschaft, und Patrick war der einzige, bei dem sie völlig entspannen konnte. Sie waren einander sehr ähnlich, das wußte sie, und aufeinander angewiesen, um überleben zu können.

Aus diesen Erwägungen heraus beschloß Cynthia, die vom Gefängnisdirektor eine Genehmigung zur Teilnahme an Doils Hinrichtung erhalten hatte, Patrick ins Florida-State-Gefängnis mitzubringen. Für ihre Anwesenheit gab es zwei Gründe: Sie war das einzige Kind eines Ehepaars, das anscheinend zu Doils Opfern gehörte, und ihr Amt als Miami City Commissioner sicherte ihr automatisch eine Vorzugsbehandlung. Als sie mit Patrick über ihre Idee sprach, war er sofort einverstanden. »Wir haben berechtigtes Interesse daran, diesen Kerl abkratzen zu sehen. Außerdem kann ich die Szene in einem Buch verwenden.«

Also hatte sie den Gefängnisdirektor erneut angerufen, und obwohl es schwierig war, zu einer Hinrichtung zugelassen zu werden - die Wartezeit betrug drei Jahre -, wurde Jensen dank ihres Einflusses mit auf die Liste gesetzt.

Es gab Augenblicke, in denen Patricks zunehmende Depressionen ihr Sorgen machten. In den Jahren, in denen sie ihn nun schon kannte, war er stets ein Denker gewesen, was wohl zu seinem Schriftstellerberuf gehörte, aber jetzt wirkte er grüblerischer als je zuvor. Neulich hatte er bei einem Gespräch trübsinnig Robert Frost zitiert:

Zwei Straßen teilten sich in einem Wald, und ich...

Ich nahm die weniger befahrene.

Und das hat allen Unterschied gemacht.

»Frost hatte recht, was diesen Unterschied betrifft«, stellte Patrick fest. »Nur ist's in seinem Fall die richtige Straße gewesen. Ich dagegen habe die falsche genommen - und auf dieser Straße kann niemand umkehren.«

»Du wirst doch nicht etwa religiös?« fragte Cynthia ihn.

Zur Abwechslung lachte Patrick. »Bestimmt nicht! Das kann höchstens die letzte Zuflucht sein, nachdem sie einen gefaßt haben.«

»Red nicht davon, gefaßt zu werden!« fauchte sie ihn an.

»Das wirst du nicht, sobald...« Obwohl Cynthia nicht weitersprach, wußten beide, daß sie Doils Hinrichtung meinte, die in wenigen Tagen stattfinden würde.

Eigentlich paradox, dachte Cynthia, sich erleichtert zu fühlen, wenn man ein Gefängnis betritt. Aber sie empfand Erleichterung, weil sie wußte, daß es bis zu dem lang ersehnten Augenblick - sie sah auf ihre Armbanduhr, es war 6.12 Uhr - nur noch eine Stunde dauerte. Zuvor hatten die zwanzig Hinrichtungszeugen, überwiegend gutgekleidete Unbekannte, sich in der nahe gelegenen Kleinstadt Starke getroffen und waren mit einem Bus zum State Prison hinausgefahren. Unterwegs war kaum gesprochen worden; jetzt schob ihre Gruppe sich durch schwere Stahlgitter und an einem festungsartigen Kontrollraum vorbei. Patrick war neben ihr, als Cynthia auf zwei Männer aufmerksam wurde, die stehengeblieben waren, um die Gruppe vorbeizulassen.

Der eine gehörte zum Gefängnispersonal, der andere war... Malcolm!

Bei seinem Anblick überlief sie ein eisiger Schauder.

Cynthia dachte angestrengt nach. Was tut er hier? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Er war hergekommen, um ein letztes Mal mit Doil zu sprechen. Warum?