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Als Ainslie zwei Stunden später nach Hause fuhr, hätte er eigentlich ein Gefühl des Triumphes empfinden müssen. Statt dessen empfand er tiefe Traurigkeit.

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»Wir haben wie der Teufel geschuftet, um alles zusammenzubekommen«, sagte Curzon Knowles zu Ainslie. »Alle haben mitgespielt, und wir glauben, daß wir überzeugend argumentieren können, aber diese verdammte Hitze ist wirklich lästig!« An diesem Dienstagmorgen um neun Uhr saßen Knowles und Ainslie im Dade-County-Gerichtsgebäude in Miami im vierten Stock in einem für Staatsanwälte reservierten kleinen Büro. Nebenan befand sich der Verhandlungsraum der Anklagekammer, in dem die heutige Verhandlung stattfinden würde.

Beide Männer hatten ihre Jacken abgelegt, weil die Klimaanlage ausgefallen war und jetzt angeblich von Wartungstechnikern instandgesetzt wurde - bisher ohne spürbaren Erfolg.

»Montesino will Sie als ersten Zeugen aufrufen«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Bitte versuchen Sie, uns bis dahin nicht wegzuschmelzen.«

Stimmen auf dem Flur signalisierten, daß die achtzehn Mitglieder der Anklagekammer den Saal betraten. Die Kammer bestand aus neun Männern und neun Frauen, ungefähr zu gleichen Teilen Hispanics, Schwarze und Weiße.

Die Hauptaufgabe einer Anklagekammer ist leicht zu definieren: Sie muß entscheiden, ob das vorgelegte Belastungsmaterial die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen einen Verdächtigen rechtfertigt. Manche Anklagekammern haben zusätzlich die Aufgabe, Korruption und Mißwirtschaft in öffentlichen Einrichtungen zu untersuchen, aber der unmittelbare strafrechtliche Auftrag ist wichtiger und historisch fundiert.

Im Vergleich zu normalen Strafprozessen laufen Verfahren vor der Anklagekammer überraschend formlos ab. Hier im Dade County stand ein Bezirksrichter zur Verfügung, der aber nur selten an den Verhandlungen teilnahm. Er belehrte die Geschworenen über ihre Rechte und Pflichten, vereidigte sie -im allgemeinen für ein halbes Jahr - und ernannte einen Vorsitzenden, seinen Stellvertreter und den Protokollführer. Der Richter beriet die Geschworenen auf ihren Wunsch in Rechtsfragen und nahm nach jeder Verhandlung ihre Entscheidung entgegen.

Im Verhandlungsraum saßen die Geschworenen an vier langen Tischen; der Vorsitzende, sein Stellvertreter und der Protokollführer hatten ihren Platz an einem Quertisch. Am zweiten Quertisch ihnen gegenüber saß ein Staatsanwalt, der das Beweismaterial erläuterte und Zeugen befragte. Diese Rolle würde heute die Generalstaatsanwältin selbst übernehmen.

Wurden Zeugen vernommen, schrieb eine Gerichtsstenografin ihre Aussagen mit.

Jeder Geschworene konnte die Verhandlung durch Fragen unterbrechen, was oft genug vorkam. Alle Beteiligten verpflichteten sich durch einen Eid zur Geheimhaltung dessen, was hier besprochen wurde; die unbefugte Weitergabe von Informationen wäre als Straftat geahndet worden.

Adele Montesino stand jetzt vor den sechs Tischen und begann mit einer flapsigen Bemerkung: »Ich möchte mich für die schreckliche Hitze entschuldigen. Die Klimaanlage soll angeblich bald wieder funktionieren; wer bis dahin irgendein Kleidungsstück ablegen will, kann das in vernünftigem Rahmen tun. Am einfachsten ist das natürlich für Männer - wenn auch weniger interessant.«

Unter halblautem Gelächter zogen mehrere Männer ihre Jacken aus.

»Ich stehe heute vor Ihnen, um drei Anklagebeschlüsse gegen ein und dieselbe Frau zu erwirken«, fuhr Montesino fort. »Der erste betrifft eine Anklage wegen zweifachen Mordes, und die Beschuldigte heißt Cynthia Mildred Ernst.«

Bis dahin hatten die Geschworenen entspannt gewirkt; jetzt war es mit ihrer Gelassenheit vorbei. Die meisten setzten sich abrupt auf, und einige ächzten sogar hörbar. Der Vorsitzende beugte sich stirnrunzelnd nach vorn, um zu fragen: »Ist das eine zufällige Namensgleichheit?«

»Nein, Mr. Foreman«, antwortete die Generalstaatsanwältin. Sie wandte sich wieder an alle Geschworenen. »Ja, meine Damen und Herren, ich spreche von Miami City Commissioner Cynthia Ernst. Und die beiden Mordopfer sind ihre verstorbenen Eltern - Gustav und Eleanor Ernst.«

Alle starrten sie verblüfft an. »Das kann ich nicht glauben!« sagte eine ältere Schwarze.

»Ich hab's zuerst auch nicht glauben wollen«, gab Montesino zu, »aber jetzt bin ich davon überzeugt. Und ich weiß, daß Sie es ebenfalls glauben werden, sobald Sie die Zeugenaussagen und eine wichtige Tonbandaufnahme gehört haben. Zumindest werden Ihre Zweifel dann soweit ausgeräumt sein, daß Sie ein Strafverfahren anordnen.«

Sie blätterte in den vor ihr auf dem Tisch liegenden Papieren. »Der zweite Anklagebeschluß, den ich ebenfalls gegen Cynthia Ernst erwirken möchte, betrifft aktive Beihilfe zur Vertuschung einer schweren Straftat, als sie noch Polizeibeamtin war. Bei diesem Verbrechen handelt es sich um die Ermordung zweier anderer Menschen, und ich werde Ihnen auch dafür Beweise vorlegen. Der dritte Anklagebeschluß bezieht sich auf Behinderung der Justiz durch Verschweigen von Wissen über ein Verbrechen - in diesem Fall den Namen eines Mörders.«

Die Geschworenen starrten sich verwundert an, als wollten sie fragen: Kann das wahr sein? Halblautes Stimmengewirr erfüllte den Raum.

Adele Montesino wartete geduldig, bis wieder Ruhe einkehrte, und rief dann ihren ersten Zeugen auf: Malcolm Ainslie, der vom Gerichtsdiener hereinbegleitet und an den Tisch der Anklagebehörde geführt wurde. Als er aufgerufen wurde, hatte Ainslie wieder seine Jacke angezogen.

Die Generalstaatsanwältin begann: »Mr. Foreman, meine Damen und Herren Geschworenen, dies ist Sergeant Malcolm Ainslie vom Miami Police Department, ein Kriminalbeamter der Mordkommission. Stimmt das, Sir?«

»Ja, Ma'am.«

»Eine persönliche Frage, Sergeant Ainslie: Warum schwitzen Sie, obwohl Sie hier nicht angeklagt sind?«

Die Geschworenen lachten schallend.

»Möchten Sie, daß der Gerichtsdiener Ihre Jacke nimmt?«

»Ja, bitte.« Ainslie konstatierte nüchtern, daß Montesino clever war, wenn sie die Geschworenen bei Laune hielt; später waren sie dann um so eher bereit, ihr zu geben, was sie wollte. Er wünschte sich, er wäre ebenfalls gutgelaunt.

»Sergeant Ainslie«, fuhr Montesino fort, »erzählen Sie uns bitte, wann und wie Sie erstmals mit Ermittlungen wegen des Mordes an Gustav und Eleanor Ernst befaßt gewesen sind.«

Ainslie, der müde und gestreßt war, atmete tief durch, um Kraft für diese persönliche Zerreißprobe zu sammeln.

Seit Malcolm Ainslie letzte Woche zweifelsfrei erfahren hatte, daß Cynthia Ernst erst Jensens Doppelmord vertuscht und anschließend die Ermordung ihrer eigenen Eltern organisiert hatte, war er seinen dienstlichen Pflichten weiterhin nachgekommen - manchmal jedoch fast roboterhaft. Bestimmte Dinge, das stand fest, mußte er selbst erledigen; dazu gehörte auch die heutige Zeugenaussage. Aber er wünschte sich zum erstenmal seit Jahren verzweifelt, er könnte die ganze Sache einem Stellvertreter überlassen und einfach weggehen.

In den letzten Tagen voller Arbeit und Enthüllungen hatte er kaum mehr klar denken können. Als am Freitagabend das Ergebnis ihrer Ermittlungen feststand, hatte ihn große Traurigkeit erfaßt. Seine Gedanken kreisten ständig um Cynthia... Cynthia, deren Leidenschaft er einst geteilt hatte; deren Kompetenz er so oft bewundert, an deren Integrität er stets geglaubt hatte. Und in letzter Zeit hatte es eine Cynthia gegeben, für die er aufrichtiges Mitleid empfand, seit er wußte, daß sie als Kind mißbraucht worden war und ihr Baby hatte weggeben müssen, ohne es überhaupt richtig gesehen zu haben.