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Vor Ainslie und Jorge türmte sich eine gigantische Aneinanderreihung hoher, abweisend nüchterner Stahlbetonbauten auf: ein anderthalb Kilometer langer Komplex mit endlosen Reihen schmaler, massiv vergitterter Zellenfenster. In dem funktionalen eingeschossigen Gebäude, das aus der Baumasse herausragte, war die Gefängnisverwaltung untergebracht. Ein weiterer alleinstehender Stahlbetonbau - zwei Stockwerke hoch und fensterlos - enthielt die Gefängniswerkstätten.

Der Komplex war von drei massiven Maschendrahtzäunen umgeben: jeder zehn Meter hoch und oben mit Stacheldrahtrollen versehen und von unter Strom stehenden Drähten gesichert. Entlang der Zäune standen in regelmäßigen Abständen insgesamt neun Wachtürme aus Stahlbeton, auf denen Posten, mit Gewehren, Maschinengewehren, Tränengas und Scheinwerfern ausgerüstet, Wache hielten. Von den Türmen aus konnten sie das ganze Gefängnis überblicken. Durch die beiden Korridore zwischen den Zäunen streiften freilaufende Wachhunde, darunter Schäferhunde und Pitbulls.

Als das Staatsgefängnis vor ihnen auftauchte, fuhren beide Streifenwagen langsamer, und Jorge, der den Komplex zum erstenmal sah, stieß einen halblauten Pfiff aus.

»Kaum zu glauben«, sagte Ainslie, »aber ein paar Kerle haben's tatsächlich geschafft, hier auszubrechen. Die meisten sind allerdings nicht sehr weit gekommen.« Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett - 6.02 Uhr - erinnerte ihn daran, daß Elroy Doil das Staatsgefängnis in weniger als einer Stunde auf dem schlimmsten Weg verlassen würde.

Jorge schüttelte den Kopf. »Wäre ich hier zu Hause, würde ich todsicher auszubrechen versuchen.«

Das äußere Tor und der angrenzende Parkplatz waren in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Auf dem Parkplatz herrschte reger Betrieb - für diese Tageszeit sehr ungewöhnlich, aber das Interesse der Öffentlichkeit an Doils Hinrichtung hatte zahlreiche Reporter angelockt. Mindestens hundert weitere Zaungäste hatten sich dort versammelt und hofften auf irgendeine sensationelle Entwicklung. In der Nähe befanden sich mehrere Übertragungswagen von Fernsehstationen.

Wie gewohnt standen Demonstranten in kleinen Gruppen beisammen und skandierten Parolen. Manche trugen an Stangen befestigte Schilder, auf denen die heutige Hinrichtung und die Todesstrafe ganz allgemein angeprangert wurden; andere hielten brennende Kerzen in den Händen. Ainslie fragte sich, wie häufig die Demonstranten - falls überhaupt - an diejenigen dachten, die selbst keine Stimme mehr hatten: die Mordopfer.

Ainslie und Jorge fuhren am Parkplatz vorbei zum Haupttor, einer zweispurigen Ein- und Ausfahrt, an der uniformierte Wachen standen. Normalerweise mußten sich hier alle Besucher ausweisen und ihren Besuchszweck angeben. Aber diesmal winkten die Posten, die weiße Hemden und auffällige giftgrüne Hosen trugen, die beiden Streifenwagen durch. Gleichzeitig erfaßte ein Turmscheinwerfer die Fahrzeuge und geleitete sie in Richtung Verwaltungsgebäude. Ainslie und Jorge schirmten die Augen ab, um nicht geblendet zu werden.

Die Fahrzeuge wurden auch an den beiden inneren Kontrollstellen durchgewinkt und rollten bereits auf das Verwaltungsgebäude zu. Ainslie war schon mehrmals im Staatsgefängnis gewesen, um Häftlinge zu vernehmen, die als Zeugen benannt worden waren, aber bei keinem dieser Besuche war er so schnell in die innere Zone gelangt.

Der Streifenwagen der Highway Patrol hielt vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes an, und Jorge parkte mit dem blauweißen Fahrzeug dicht daneben.

Als Ainslie ausstieg, sah er einen großen, schlanken Mann in der Uniform eines Gefängniswärters mit den Rangabzeichen eines Lieutenant auf sich zukommen. Er war schätzungsweise Mitte Vierzig, trug eine Lesebrille und hatte auf der rechten Wange eine lange Narbe. Seine Stimme klang energisch und selbstbewußt, als er die Rechte ausstreckte und sagte: »Sergeant Ainslie, ich bin Hambrick.«

»Guten Morgen, Lieutenant. Danke für die Vorarbeit.«

»Kein Problem, aber kommen Sie gleich mit.« Der Lieutenant ging voraus und trabte einen hell beleuchteten Korridor entlang -die streng bewachte Verbindung zwischen den äußeren Sicherheitseinrichtungen und den gewaltigen Zellenblocks vor ihnen. Die beiden Männer blieben kurz stehen, um zwei elektrisch betätigte Stahlgitter und dann eine massive Stahltür zu passieren. Diese führte in den Hauptkorridor, der so breit wie eine vierspurige Schnellstraße war und durch alle sieben Zellenblocks des Staatsgefängnisses verlief.

Hambrick und Ainslie blieben vor der mit Stahlplatten und Panzerglas armierten Sicherheitszentrale stehen, in der zwei Wachen und ein weiblicher Lieutenant Dienst taten. Die Uniformierte schob ein Metallfach durch die Wand nach draußen; Ainslie legte seine Glock, eine 9mm-Pistole, das Magazin mit fünfzehn Schuß und seine Polizeiplakette hinein. Die Schublade wurde zurückgezogen, um ihren Inhalt in einem Safe zu deponieren, bis er Ainslie wieder ausgehändigt werden konnte. Niemand fragte nach dem Tonbandgerät unter seiner Jacke, das er während der Fahrt umgeschnallt hatte. Er beschloß, es nicht ungefragt zu erwähnen.

»Los, wir müssen weiter«, drängte Hambrick, aber in diesem Augenblick tauchte eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen im Korridor auf und blockierte sie. Diese Neuankömmlinge waren gutgekleidete Besucher; alle wirkten ernst und konzentriert, während sie von Aufsehern eilig durch die Gänge geführt wurden. Hambrick sah zu Ainslie hinüber und formte mit den Lippen das Wort »Zeugen«.

Ainslie erkannte, daß die Gruppe zum Hinrichtungsraum unterwegs war: »zwölf angesehene Bürger«, wie es das Gesetz befahl, und weitere Personen, deren Anwesenheit der Gefängnisdirektor genehmigt hatte, wobei es immer mehr Bewerber als Sitzplätze gab. Die Höchstgrenze lag bei vierundzwanzig Personen. Die Zeugen würden sich irgendwo in der Nähe versammelt haben, um mit einem Bus ins Gefängnis gebracht zu werden. Ihre Anwesenheit war ein Zeichen dafür, daß die Vorbereitungen für 7.00 Uhr planmäßig liefen.

In dieser Gruppe erkannte Ainslie eine Senatorin und zwei Abgeordnete aus dem hiesigen Kongreß. Politiker konkurrierten darum, Hinrichtungen beiwohnen zu dürfen, weil sie hofften, ihre Anwesenheit bei solch bedeutsamen Demonstrationen des rechtsstaatlichen Systems werde ihnen Wählerstimmen einbringen. Dann verblüffte ihn der Anblick einer weiteren Zeugin: Commissioner Cynthia Ernst aus Miami, die einst eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Aber eigentlich war klar, weshalb sie bei Animal Doils Hinrichtung dabei sein wollte.

Ihre Blicke trafen sich sekundenlang, und Ainslie fühlte, daß er unwillkürlich Luft holte. Diese Wirkung hatte sie jedesmal auf ihn. Und er spürte, daß sie sich seiner Gegenwart ebenfalls bewußt war, obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ. Als sie an ihm vorbeiging, blieb ihr Gesichtsausdruck kühl und gelassen.

In der nächsten Sekunde waren die Zeugen an ihnen vorbei, und Lieutenant Hambrick und Ainslie hasteten weiter.

»Der Superintendent stellt uns für das Gespräch mit Doil sein Büro im Todestrakt zur Verfügung«, sagte Hambrick. »Wir bringen ihn dorthin zu Ihnen. Er hat die Vorbereitungen schon hinter sich.« Der Lieutenant sah auf seine Armbanduhr. »Sie haben ungefähr eine halbe Stunde Zeit, nicht viel mehr. Waren Sie übrigens schon mal bei einer Hinrichtung dabei?«

»Ja, einmal.« Das war drei Jahre her. Auf Bitten der Hinterbliebenen hatte Ainslie ein junges Ehepaar begleitet, das sich dafür entschieden hatte, bei der Hinrichtung eines Gewohnheitsverbrechers dabeizusein, der die achtjährige Tochter der beiden vergewaltigt und dann ermordet hatte. Ainslie, der den Täter gefaßt hatte, war damit einer dienstlichen Verpflichtung nachgekommen, die ihm jedoch noch lange danach zu schaffen machte.