»Darwin hat recht gehabt«, fügte Verona hinzu. »Jeder von uns hat Affen in seinem Stammbaum, was, Malcolm?« Das sagte er absichtlich, weil er von Ainslies Vergangenheit als Priester wußte.
Obwohl Ainslie nie ein Fundamentalist gewesen war, hatte er früher die katholischen Zweifel an Darwins Hauptwerk Der Ursprung der Arten geteilt. Schließlich hatte Darwin den Schöpfungsakt Gottes geleugnet und dem Menschen seine Überlegenheit über den Rest der Tierwelt abgesprochen. Aber diese Zeiten lagen weit zurück, so daß Ainslie jetzt antwortete: »Ja, das denke ich auch.«
Er war sich darüber im klaren, daß sie alle - Waiden, Verona, Ceballos, Quinn und sogar er selbst - nur versuchten, sich für einige Augenblicke von der grausigen Szene abzulenken, die sie vor sich hatten. Außenstehende hätten ihr Verhalten vielleicht als herzlos empfunden; in Wirklichkeit war es genau das Gegenteil. Die menschliche Psyche - selbst die konditionierte von Polizeibeamten - konnte nicht unbegrenzt solche erschütternden Eindrücke verkraften.
Inzwischen war ein weiterer Mann der Spurensicherung eingetroffen, der Blutproben nahm. Er füllte kleine Glasröhrchen mit Proben aus den Blutlachen, die sich um die Leichen herum angesammelt hatten. Die Proben würden später mit dem bei der Autopsie entnommenen Blut der Opfer verglichen werden. Waren die Blutgruppen verschieden, konnte ein Teil des Blutes hier von dem oder den Tätern stammen. Aber das war offenbar wenig wahrscheinlich.
Für den Fall, daß eines der Opfer den Täter gekratzt hatte, wobei winzige Spuren von Haut, Haaren, Stoff oder anderen Materialien zurückgeblieben sein konnten, kratzte der Techniker die Fingernägel der Frosts aus. Diese Proben kamen in kleine Behälter, um später im Labor untersucht zu werden. Danach wurden die Hände der Ermordeten mit schützenden Plastikbeuteln umhüllt, damit vor der Autopsie Fingerabdrücke genommen werden konnten. Bei dieser Gelegenheit würde der gesamte Körper der Leichen auf fremde Fingerabdrücke untersucht werden.
Auch die Kleidung der Frosts wurde sorgfältig begutachtet, obwohl sie an Ort und Stelle bleiben würde, bis die Toten im Leichenschauhaus waren.
Durch die zusätzlichen Leute, die durcheinanderredeten und ständig telefonierten, war Zimmer 805 jetzt überfüllt, laut und womöglich noch übelriechender.
Ainslie sah auf seine Armbanduhr. Es war 9.45 Uhr, und er mußte plötzlich an Jason denken, der jetzt mit seiner dritten Klasse in der Aula saß und auf den Beginn eines Vorlesewettbewerbs wartete. Karen würde wie andere Eltern auch nervös und stolz im Publikum sitzen. Ainslie hatte gehofft, kurz vorbeischauen zu können, aber das hatte nicht geklappt. Es klappte selten.
Er konzentrierte sich wieder auf den Tatort, fragte sich, ob dieser Fall wohl rasch zu lösen war. Aber im Verlauf der nächsten Stunden stellte sich heraus, worin das größte Problem bestand: Obwohl im Hotel ständig viele Menschen unterwegs waren, hatte niemand auch nur einen möglichen Verdächtigen gesehen. Irgendwie hatten der oder die Täter es geschafft, Zimmer 805 und vermutlich auch das Hotel unbemerkt zu betreten und auch wieder zu verlassen. Ainslie ließ alle Gäste im siebten, achten und neunten Stock befragen. Niemand hatte etwas gesehen.
In den zwölf Stunden, die Ainslie an diesem ersten Tag am Tatort verbrachte, überlegte er mit Quinn, was das Tatmotiv gewesen sein könnte. Möglicherweise Raub, weil bei den Ermordeten kein Geld gefunden worden war. Andererseits würde kein Raubmörder den am Tatort gefundenen Schmuck, der später auf zwanzigtausend Dollar geschätzt wurde, zurückgelassen haben.
Und um Bargeld zu rauben, hätte man nicht zwei Menschen ermorden müssen. Auch die Grausamkeit der Tat und das Rätsel der vier toten Katzen blieben vorerst ungeklärt. Also gab es weder ein schlüssiges Tatmotiv noch eine Täterbeschreibung.
Erste Auskünfte über Homer und Blanche Frost - telefonisch von der Polizei ihrer Heimatstadt South Bend, Indiana, eingeholt
- beschrieben sie als wohlhabendes, unauffälliges Ehepaar ohne erkennbare Laster, Familienprobleme oder verdächtige Bekanntschaften. Trotzdem würde Bernie Quinn in den nächsten Tagen nach South Bend fliegen, um dort weitere Erkundigungen einzuziehen.
Verschiedene Tatsachen und Vermutungen ergaben sich, als die Gerichtsmedizinerin Sandra Sanchez, die später auch die Autopsie vornehmen würde, die Leichen der Frosts am Tatort untersuchte.
Ihrer Ansicht nach waren die beiden Opfer überwältigt, gefesselt, geknebelt und dann so plaziert worden, daß sie einander sehen konnten. »Sie sind bei vollem Bewußtsein gefoltert worden«, vermutete Sanchez. Sie glaubte, die Mißhandlungen seien »langsam und methodisch« vorgenommen worden.
Am Tatort war keine Waffe gefunden worden, aber diese erste Untersuchung zeigte, daß beide Leichen tiefe Schnittwunden aufwiesen, die im Fleisch und an den Knochen charakteristische Spuren hinterlassen hatten. Und ein grausiges Detaiclass="underline" In Mr. Frosts Augen war eine brennbare Flüssigkeit geschüttet und angezündet worden, so daß in seinen rauchgeschwärzten Augenhöhlen nur verkohlte Überreste zurückgeblieben waren. Unter Mrs. Frosts Knebel war ihre Zungenspitze fast abgebissen
- vermutlich eine Reaktion auf die erlittenen Folterqualen.
Dr. Sanchez, eine Frau Ende Vierzig, war wegen ihrer direkten Art und scharfen Zunge bekannt. Sie bevorzugte konservative dunkelblaue oder braune Kostüme und trug ihr graumeliertes Haar zu einem Nackenknoten verschlungen. Wie Bernard Quinn wußte, interessierte sie sich als Wissenschaftlerin für Santeria, einen afrokubanischen religiösen Kult, der im Dade County, Florida, schätzungsweise siebzigtausend Anhänger hatte.
Quinn hatte Sandra Sanchez einmal sagen gehört: »Okay, ich behaupte nicht, an die Orishas - die Götter - der Santeria zu glauben. Aber wenn man ähnlich unwahrscheinliche Geschichten glaubt - den Zug der Kinder Israels durchs Rote Meer, die Unbefleckte Empfängnis, die Speisung der fünftausend und Jonas' Errettung aus einem Walfischbauch -, ist die Santeria mindestens ebenso logisch. Und sie bietet beruhigenden Voodoozauber für sorgenvolle Gemüter.«
Weil Quinn wußte, daß zu manchen Santeria-Ritualen Tieropfer gehörten, fragte er Sanchez, ob die vier toten Katzen darauf hinwiesen.
»Bestimmt nicht«, erklärte sie ihm. »Ich habe mir diese Katzen angesehen; sie sind mit bloßen Händen umgebracht worden - anscheinend ziemlich brutal. Santeria-Opfertiere werden mit einem Messer getötet, ehrfürchtig behandelt und niemals wie diese Katzen achtlos liegengelassen. Sie werden oft bei einem Festmahl verzehrt, aber Katzen sind niemals darunter.«
Ainslie und Quinn fanden beide, ihre ersten Erkenntnisse seien durchaus nicht ermutigend. »Ein klassisch rätselhafter Fall«, berichtete Ainslie Leo Newbold.
Solche Fälle, die nur Rätsel aufgaben, weil nicht der geringste Hinweis auf die Identität des Täters - manchmal auch des Opfers - existierte, waren bei den Teams der Mordkommission am unbeliebtesten. Im Gegensatz dazu gab es problemlose Mordfälle, in denen bald ein Verdächtiger gefaßt und überzeugendes Belastungsmaterial sichergestellt wurde. Und am einfachsten waren die Fälle, in denen der Mörder sich mit noch rauchender Pistole in der Hand am Tatort aufhielt, wenn die Polizei eintraf.
Lange nach dem grausamen Tod von Homer und Blanche Frost würde schließlich ein Mord, bei dem der Mörder auf frischer Tat geschnappt wurde, scheinbar auch diesen Fall lösen, so daß die Akte Frost geschlossen werden konnte.
2
Am Freitagmorgen, drei Tage nach dem Doppelmord im Hotel Royal Colonial, ging Bernard Quinn kurz vor acht Uhr von der Mordkommission in die Identifizierungsstelle, die ebenfalls im vierten Stock des Polizeipräsidiums lag. Dort arbeitete ein halbes Dutzend ID-Techniker an Computern, neben denen sich Ausdrucke türmten. Quinn ging zu Sylvia Waiden, der jungen Fingerabdrucksspezialistin, die Zimmer 805 nach verborgenen Abdrücken abgesucht hatte. Sie saß vor einem großen Computermonitor und hob den Kopf, als er näher kam. Er sah, daß ihre langen Haare feucht waren - vermutlich von dem Platzregen, der auch Quinn auf dem Weg zur Arbeit überrascht hatte.