Ainslie unterbrach ihn. »Das weiß ich, Pater, aber ich erinnere Sie daran, daß ich in Miami bin - vierhundert Meilen entfernt -und nicht die ganze Nacht durchfahre, nur weil's diesem Spinner plötzlich einfällt, es wäre nett, noch mal mit mir zu reden.«
Ainslie wartete. Dann schien der Geistliche eine Entscheidung zu treffen. »Er will gestehen, sagt er.«
Das war ein Schock für Ainslie, der alles andere erwartet hätte. Er fühlte sein Herz rascher schlagen. »Was gestehen? Meinen Sie alle Morde?«
Das waren logische Fragen. Vor dem Schwurgericht, das Elroy Doil wegen eines bestialischen Doppelmords schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt hatte, hatte er trotz erdrückender Schuldbeweise hartnäckig seine Unschuld beteuert. Ebenso nachdrücklich hatte er geleugnet, zehn weitere Morde - ganz eindeutig Serienmorde - verübt zu haben, derentwegen er nicht angeklagt worden war, die aber nach Überzeugung der Ermittler ebenfalls auf sein Konto gingen.
»Ich habe keine Ahnung, was er gestehen will. Das müssen Sie schon selbst herausfinden.«
»Scheiße!«
»Wie bitte?«
»Ich habe Scheiße gesagt, Pater. Ein Wort, das Sie bestimmt auch schon ein- bis zweimal benutzt haben.«
»Grobheiten sind überflüssig, Sergeant.«
Ainslie ächzte vernehmlich, weil er plötzlich in einem Dilemma steckte.
War Animal zu diesem späten Zeitpunkt bereit, nicht nur einen, sondern alle von ihm verübten Serienmorde zu gestehen, mußte seine Aussage zu Protokoll genommen werden. Das hatte vor allem einen Grund: Einige lautstarke Protestierer, darunter eine Initiative zur Abschaffung der Todesstrafe, glaubten noch jetzt an Doils Unschuldsbeteuerungen und behaupteten, das Verfahren gegen ihn sei durchgepeitscht worden, weil die aufgebrachte Öffentlichkeit die Aburteilung irgendeines Täters gefordert habe - und das so schnell wie möglich. Ein Geständnis Doils würde dieses Argument widerlegen.
Unklar blieb natürlich, was Doil meinte, wenn er von »gestehen« sprach. Dachte er an ein schlichtes juristisches Geständnis, oder würde es die Form einer verwickelten religiösen Beichte annehmen? Vor Gericht war Doil von einem Zeugen als religiöser Fanatiker beschrieben worden, der »verrücktes, unverständliches Zeug brabbelt«.
Unabhängig davon, was Doil zu sagen hatte, würde es Fragen geben, die Ainslie, der mit dem Fall vertraut war, besser als jeder andere stellen konnte. Deshalb mußte er unbedingt nach Raiford.
Er lehnte sich müde in den Schreibtischsessel zurück. Diese Sache hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Karen würde vor Wut schäumen, das wußte er. Erst letzte Woche hatte sie ihn um ein Uhr morgens hinter der Haustür abgefangen, als er nach Ermittlungen in einem gräßlichen Mordfall im Gangstermilieu, derentwegen er ihr Dinner am Hochzeitstag versäumt hatte, nach Hause kam. Karen, die ein rosa Nachthemd trug, hatte ihm den Zutritt verwehrt und in bestimmten Tonfall gesagt: »Malcolm, so kann unser Leben nicht weitergehen. Wir bekommen dich kaum noch zu sehen. Auf dich ist kein Verlaß mehr. Und wenn du heimkommst, bist du nach einem sechzehnstündigen Arbeitstag so verdammt müde, daß du nur noch schläfst. Ich sage dir, das muß sich ändern! Du mußt dich entscheiden, was dir wichtiger ist.« Karen sah weg. Dann fügte sie leise hinzu. »Das ist mein Ernst, Malcolm. Ich bluffe nicht.«
Er wußte genau, was Karen meinte. Und er verstand ihre Empörung. Aber nichts war so einfach, wie es aussah.
»Sergeant, sind Sie noch da?« fragte Uxbridge ungeduldig.
»Ja, leider.«
»Also, kommen Sie oder nicht?«
Ainslie zögerte. »Pater, dieses Geständnis, das Doil ablegen will - wäre das im weitesten Sinn eine Beichte?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Kompromiß, um nicht eigens nach Raiford fahren zu müssen. Könnte Doil nicht in Anwesenheit eines Gefängnisbeamten bei Ihnen beichten? Dann wäre sein Geständnis protokolliert und somit amtlich.«
Eine abwegige Idee, das wußte Ainslie, deshalb überraschte ihn Uxbridges Reaktion nicht. »Um Himmels willen, nein! Ihr Vorschlag ist empörend! Was in der Beichte gesagt wird, ist nicht für Dritte bestimmt. Das müßten Sie doch besser wissen als jeder andere.«
»Ja, natürlich. Entschuldigung.« Wenigstens soviel war er Uxbridge schuldig. Das war ein letzter Versuch gewesen, diese Fahrt irgendwie zu vermeiden. Jetzt schien es keine Alternative mehr zu geben.
Ins Staatsgefängnis kam man am schnellsten, indem man nach Jacksonville oder Gainesville flog und das letzte kurze Stück mit dem Auto fuhr. Aber Linienflüge dorthin gab es nur tagsüber. Nachts konnte er Raiford vor Doils Hinrichtung nur mit dem Auto erreichen. Ainslie sah auf seine Uhr. Acht Stunden. Knapp, aber gerade noch zu schaffen.
Er winkte Rodriguez heran, der aufmerksam zugehört hatte, bedeckte die Sprechmuschel mit einer Hand und erklärte ihm: »Sie müssen mich nach Raiford fahren - gleich jetzt. Lassen Sie sich einen Streifenwagen zuteilen. Sehen Sie nach, ob der Tank voll ist, und warten Sie dann vor der Fahrbereitschaft auf mich. Und besorgen Sie sich ein Mobiltelefon.«
»Wird gemacht, Sergeant.« Jorge trabte davon.
Der Geistliche, dessen Stimme jetzt schärfer klang, sprach weiter. »Lassen Sie mich eines klarstellen, Ainslie: Mir widerstrebt es, überhaupt mit Ihnen zu reden. Ich tue es gegen meine Überzeugung, weil dieser arme Mann, der nun bald sterben wird, mich darum gebeten hat. Tatsächlich weiß Doil, daß Sie ein ehemaliger Geistlicher sind. Er will nicht bei mir beichten; das hat er mir gesagt. In seinem Wahn hat er sich in den Kopf gesetzt, bei Ihnen zu beichten. Diese Vorstellung ist mir gänzlich widerwärtig, aber ich muß seinen Wunsch respektieren.«
Nun war es also heraus.
Damit hatte Ainslie gerechnet, seit er Ray Uxbridges Stimme am Telefon gehört hatte. Aus Erfahrung wußte er zweierlei. Erstens: Seine Vergangenheit tauchte oft ganz unerwartet auf, und Uxbridge kannte sie offenbar. Zweitens: Niemand begegnete einem ehemaligen katholischen Priester verbitterter oder mit mehr Vorurteilen als ein katholischer Priester. Andere waren toleranter - selbst katholische Laien oder Geistliche anderer Konfessionen. Aber niemals katholische Kleriker. Manchmal vermutete Ainslie dahinter Neid - die vierte Todsünde.
Ainslie hatte den Priesterberuf schon vor zehn Jahren aufgegeben. Jetzt sagte er ins Telefon: »Hören Sie, Pater, mich als Polizeibeamten interessiert nur, was Animal über das oder die von ihm verübten Verbrechen zu sagen hat. Will er mir die Wahrheit darüber mitteilen, bevor er stirbt, höre ich zu und habe natürlich auch einige Fragen zu stellen.«
»Ein Verhör?« fragte Uxbridge. »Wozu ist das noch notwendig? Mr. Doil ist kein Verdächtiger mehr.«
»Er wird verdächtigt, noch andere Verbrechen verübt zu haben; außerdem sind wir im öffentlichen Interesse verpflichtet, alles festzustellen, was möglich ist.«
»Im öffentlichen Interesse«, wollte Uxbridge skeptisch wissen, »oder um Ihren persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen, Sergeant?«
»Was Animal Doil betrifft, ist mein Ehrgeiz seit dem Tag befriedigt, an dem er schuldig gesprochen und verurteilt worden ist. Aber ich bin dienstlich verpflichtet, alle Fakten herauszufinden, die sich in Erfahrung bringen lassen.«
»Und mir geht's mehr um die Seele dieses Menschen.«
Ainslie lächelte schwach. »In Ordnung, Pater. Ich bin für Fakten, Sie für Seelen zuständig. Was halten Sie davon, sich mit Doils Seele zu beschäftigen, solange ich unterwegs bin, und ihn mir zu überlassen, sobald ich da bin?«
Uxbridges Stimme wurde tiefer. »Ich muß nachdrücklich darauf bestehen, Ainslie, daß Sie sich dazu verpflichten, sich im Gespräch mit Doil keinerlei pastorale Befugnisse anzumaßen. Außerdem... «