Am Ende des ersten Monats hätte man sie noch vertreiben können; am Ende des zweiten Monats hätte man sie noch leicht besiegen und einen ehrenvollen Rückzug mit den assyrischen Truppen aushandeln können.
Sie warteten auf die Schlacht, doch niemand griff an. Am Ende des fünften Monats hätte man die Assyrer noch zurückwerfen können. >Sie werden bald angreifen, denn sie haben sicher Durst<, dachte der Stadthauptmann. Er bat den Kommandanten, eine Abwehrstrategie auszuarbeiten und seine Leute kampfbereit zu halten, damit sie auf einen Überraschungsangriff reagieren könnten.
Doch er selbst konzentrierte sich auf die Vorbereitung des Friedens.
Ein halbes Jahr war bereits verstrichen, und das assyrische Heer hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Die Anspannung in Akbar, die während der ersten Wochen der Besetzung gewachsen war, hatte ganz und gar nachgelassen. Die Leute kehrten zu ihrem gewohnten Leben zurück, die Bauern gingen auf ihre Felder, die Handwerker machten Wein, Glas und Seife, die Kaufleute verkauften und kauften ihre Waren. Da Akbar seine Feinde nicht angriff, glaubten alle, daß die Krise schon bald mit Verhandlungen behoben würde. Alle wußten, daß der Stadthauptmann von den Göttern bestimmt worden war und immer wußte, was am besten zu tun sei.
Als Elia in die Stadt kam, hatte der Stadthauptmann Gerüchte über den Fluch ausstreuen lassen, den der Fremde mit sich brachte. So konnte er, im Falle einer akuten Kriegsgefahr, den Fremden zum Sündenbock für alles Unheil machen, das über die Stadt hereinbrach. Die Bewohner Akbars wären bestimmt leicht davon zu überzeugen, daß mit dem Tod des Israeliten das Universum wieder ins Gleichgewicht kam. Der Stadthauptmann brauchte dann nur zu erklären, daß es nun zu spät sei, die Assyrer zum Abzug zu bewegen, Elia töten zu lassen und seinem Volk zu erklären, daß der Friede die beste Lösung sei. Die Kaufleute, die ebenfalls den Frieden wollten, würden das Volk auf ihre Seite bringen.
Die ganzen Monate hatte er sich gegen den Priester und den Kommandanten gestemmt, die einen umgehenden Angriff forderten. Die Götter des Fünften Berges hatten ihn indes noch nie verlassen. Jetzt, nach der Wiedererweckung der vorangegangenen Nacht, war Elias Leben wichtiger als seine Hinrichtung.
»Was hat dieser Fremde an Eurer Seite zu suchen?« fragte der Kommandant.
»Er wurde von den Göttern erleuchtet«, antwortete der Stadthauptmann. »Und er wird uns helfen, die beste Lösung zu finden.« Schnell wechselte er das Thema.
»Es scheinen heute noch mehr Zelte zu sein.« »Und morgen noch viel mehr«, sagte der Kommandant.
»Hätten wir sie vernichtet, als es nur eine Patrouille war, wären sie wahrscheinlich nie zurückgekommen.« »Ihr irrt. Einer von ihnen wäre uns bestimmt entwischt, und dann wären sie wiedergekommen, um sich zu rächen.« »Wenn wir die Ernte aufschieben, verfaulen die Früchte«, beharrte der Kommandant. »Wenn wir aber die Probleme aufschieben, wachsen sie immer weiter.« Der Stadthauptmann erklärte, daß nunmehr seit drei Jahrhunderten Friede in Phönizien herrschte und das Volk sehr stolz darauf sei. Was würden kommende Generationen sagen, wenn er diese Ära des Wohlstandes abbrach?
»Schickt einen Emissär, um mit ihnen zu verhandeln«, sagte Elia. »Der beste Krieger ist der, dem es gelingt, sich seinen Feind zum Freund zu machen.« »Wir wissen nicht genau, was sie vorhaben. Wir wissen nicht einmal, ob sie unsere Stadt erobern wollen. Wie sollen wir da verhandeln?« »Es gibt bedrohliche Anzeichen. Ein Heer vertut nicht seine Zeit damit, fern seiner Heimat militärische Übungen zu machen.« Jeden Tag kamen mehr Soldaten – und der Stadthauptmann überlegte sich, wieviel Wasser all diese Männer wohl brauchten. In kürzester Zeit würde die Stadt dem feindlichen Heer schutzlos ausgeliefert sein.
»Können wir jetzt angreifen?« fragte der Priester den Kommandanten.
»Ja, das können wir. Wir werden viele Männer verlieren, doch die Stadt wird gerettet werden. Aber wir müssen uns schnell entscheiden.« »Das sollten wir nicht tun, Stadthauptmann. Die Götter des Fünften Berges haben mir gesagt, daß uns noch Zeit bleibt, um eine friedliche Lösung zu finden«, rief Elia. Und der Stadthauptmann tat so, als gebe er ihm recht und als ginge ihn die Auseinandersetzung zwischen dem Priester und dem Israeliten nichts an. Ihm war es gleichgültig, ob Sidon und Tyrus von Phöniziern, den Kanaanitern oder Assyrern regiert wurden.
Wichtig war allein, daß die Stadt weiterhin ihre Erzeugnisse verkaufen konnte.
»Greifen wir an«, beharrte der Priester.
»Einen Tag noch«, bat der Stadthauptmann. »Vielleicht findet sich noch eine Lösung.« Er würde schnell entscheiden müssen, wie der Bedrohung durch die Assyrer am besten zu begegnen war. Er stieg von der Mauer herab und bat den Israeliten, ihn zum Palast zurückzubegleiten.
Unterwegs beobachtete er das Volk um ihn herum: die Hirten, die ihre Schafe in die Berge führten, die Bauern, die auf die Felder gingen, wo sie dem trockenen Boden Nahrung für sich und ihre Familien abzutrotzen versuchten. Soldaten übten mit ihren Lanzen, und einige vor kurzem eingetroffene Kaufleute boten ihre Waren auf dem Marktplatz feil. So unglaublich es auch scheinen mochte: Die Assyrer hatten die Straße nicht geschlossen, die das ganze Tal durchschnitt. Die Kaufleute waren immer noch mit ihren Waren unterwegs und zahlten der Stadt Wegzoll.
»Warum schließen sie die Straße nicht, obwohl sie eine gewaltige Streitmacht zusammengezogen haben?« wollte Elia wissen.
»Das assyrische Reich braucht die Erzeugnisse, die in den Häfen von Sidon und Tyrus ankommen«, antwortete der Stadthauptmann. »Die Lieferungen würden unterbrochen, wenn die Kaufleute bedroht werden. Und die Folgen wären schlimmer als eine militärische Niederlage. Es muß eine Möglichkeit geben, den Krieg zu verhindern.« »Ja«, sagte Elia. »Wenn sie Wasser haben wollen, könnten wir es verkaufen.« Der Stadthauptmann sagte nichts. Doch er begriff, daß er den Israeliten als Waffe gegen die benutzen konnte, die den Krieg wollten. Er war auf den Gipfel des Fünften Berges gestiegen und hatte den Göttern getrotzt. Und wenn der Priester weiter darauf beharren würde, gegen die Assyrer zu kämpfen, wäre Elia der einzige, der ihm die Stirn bieten könnte. Er schlug vor, miteinander einen Spaziergang zu machen, damit sie sich etwas unterhielten.
Der Priester blieb oben stehen und beobachtete den Feind.
»Was können die Götter tun, um die Invasoren aufzuhalten?« fragte der Kommandant.
»Ich habe vor dem Fünften Berg Opfer gebracht. Ich habe gebeten, sie möchten uns ein mutigeres Oberhaupt schicken.« »Wir sollten es halten wie Isebel und die Propheten töten. Ein einfacher Israelit, der gestern noch zum Tode verurteilt war, wird heute vom Stadthauptmann dazu benutzt, das Volk von der Notwendigkeit eines Friedens zu überzeugen.« Der Kommandant blickte auf den Berg.
»Wir könnten jemanden dingen, der Elia tötet. Und meine Krieger dazu benutzen, den Stadthauptmann aus den Regierungsgeschäften zu vertreiben.« »Ich werde befehlen, Elia zu töten«, antwortete der Priester.
»Was den Stadthauptmann betrifft, sind uns die Hände gebunden: Seine Familie ist seit Generationen an der Macht.
Sein Großvater war unser Stadthauptmann, der die Macht der Götter an seinen Vater weitergegeben hat, der sie wiederum an seinen Sohn weitergab.« »Nur weil die Tradition uns untersagt, einen fähigeren Mann an seine Stelle zu setzen?« »Die Tradition ist dazu da, die Ordnung der Welt zu erhalten.
Wenn wir daran rühren, endet die Welt.« Der Priester blickte um sich. Himmel und Erde, Berge und Tal, jedes Ding erfüllte, was für es bestimmt war. Manchmal zitterte der Boden, ein andermal – wie jetzt -regnete es lange nicht.