Doch die Sterne blieben an ihrem Platz, und die Sonne war den Menschen nicht auf den Kopf gefallen. Alles weil seit der Sintflut die Menschen gelernt hatten, daß an die Ordnung der Schöpfung nicht gerührt werden durfte.
Einstmals hatte es nur den Fünften Berg gegeben. Menschen und Götter hatten zusammengelebt, waren in den schönen Gärten des Paradieses gelustwandelt, hatten miteinander geredet und gelacht. Doch die Menschen hatten gesündigt und die Götter hatten sie von dort vertrieben. Da es nichts gab, wohin sie sie schicken konnten, hatten sie rings um den Berg die Erde erschaffen, wo sie sie aussetzen, überwachen und dafür sorgen konnten, daß sie nie vergaßen, daß sie den Bewohnern des Fünften Berges weit unterlegen waren.
Sie sahen jedoch davon ab, den Menschen die Tür auf ewig zu verschließen. Wenn die Menschheit auf dem Pfad der Tugend wandelte, würde sie eines Tages wieder auf den Gipfel des Berges zurückkehren. Damit dieser Gedanke nicht vergessen wurde, beauftragten die Götter die Priester und die Regierenden damit, sie in der Vorstellung lebendig zu erhalten.
Alle Völker teilten denselben Glauben: Wenn die von den Göttern gesalbten Familien sich von der Macht entfernten, waren die Folgen katastrophal. Niemand erinnerte sich mehr daran, weshalb diese Familien erwählt worden waren, doch alle wußten, daß sie mit den göttlichen Familien verwandt waren.
Akbar bestand schon Hunderte von Jahren, und immer hatte die Familie des Stadthauptmanns regiert. Es war oftmals eingenommen und von Diktatoren und Barbaren beherrscht worden, doch immer waren die Invasoren mit der Zeit entweder von selbst wieder gegangen oder vertrieben worden. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt, und die Menschen führten ihr Leben weiter wie zuvor.
Es war die Pflicht der Priester, diese Ordnung aufrechtzuerhalten: Die Welt besaß ein Schicksal und unterlag Gesetzen. Die Zeit, in der man versuchte, die Götter zu verstehen, war längst vorüber. Jetzt herrschte das Zeitalter, in dem sie respektiert wurden und alles getan wurde, was sie wollten. Sie waren launisch und leicht zu erzürnen.
Ohne die Ernterituale gab die Erde keine Früchte. Ohne die entsprechenden Opfer wurde die Stadt von tödlichen Krankheiten heimgesucht. Wenn man den Wettergott reizte, hörten Getreide und Menschen auf zu wachsen.
»Sieh den Fünften Berg«, sagte der Priester zum Kommandanten. »Von seinem Gipfel aus beherrschen die Götter das Tal und beschützen uns. Sie haben einen ewigen Plan für Akbar. Der Fremde wird getötet werden oder in sein Land zurückkehren, der Stadthauptmann wird eines Tages sterben, und sein Sohn wird weiser sein als er. Was wir jetzt erleben, geht vorüber.« »Wir brauchen einen neuen Stadthauptmann«, sagte der Kommandant. »Verbleiben wir in den Händen dieses Mannes, werden wir alle zerstört werden.« Der Priester wußte, daß dies der Götter Wille war, um der Bedrohung durch die Schrift von Byblos ein Ende zu bereiten.
Doch er sagte nichts. Er freute sich, weil er wieder einmal feststellte, daß die Regierenden immer das Schicksal des Universums erfüllten – ob sie wollten oder nicht.
Elia spazierte durch die Stadt, erklärte dem Stadthauptmann seine Friedenspläne und wurde zu dessen Helfer ernannt. Als sie in der Mitte des Platzes angelangt waren, näherten sich erneut Kranke, doch er sagte, daß die Götter vom Fünften Berge ihm untersagt hätten, zu heilen. Gegen Abend kehrte er in das Haus der Witwe zurück. Das Kind spielte mitten auf der Straße, und er dankte dafür, das Werkzeug für ein Wunder des Herrn gewesen zu sein.
Sie erwartete ihn zum Abendessen. Zu seiner Überraschung stand Wein auf dem Tisch.
»Die Leute haben Geschenke für Euch gebracht, um Euch eine Freude zu machen«, sagte sie. »Und ich möchte Euch um Vergebung bitten, daß ich so ungerecht war.« »Inwiefern ungerecht?« wunderte sich Elia. »Seht Ihr denn nicht, daß alles zum Ratschluß Gottes gehört?« Die Witwe lächelte, ihre Augen leuchteten, und er bemerkte, wie schön sie war. Sie war mindestens zehn Jahre älter als er, doch er empfand eine tiefe Zärtlichkeit für sie. Es war ein ungewohntes Gefühl und es machte ihm angst. Er erinnerte sich an Isebels Augen und seine Bitte an Gott, ihm eine Libanesin zur Frau zu geben.
»Obwohl mein Leben unnütz war, habe ich zumindest meinen Sohn. Und seine Geschichte wird nie vergessen werden, denn er kam aus dem Reich der Toten zurück«, sagte die Frau.
»Euer Leben ist nicht unnütz. Ich kam auf Geheiß des Herrn nach Akbar, und Ihr habt mich aufgenommen. Wenn die Geschichte Eures Sohnes nicht vergessen werden wird, so wird gewiß auch Eure Geschichte nicht vergessen werden.« Die Frau füllte die beiden Gläser. Sie tranken auf die Sonne, die sich verbarg, und auf die Sterne am Himmel.
»Ihr kamt aus einem fernen Land, folgtet den Zeichen eines Gottes, den ich nicht kannte. Doch jetzt ist Er auch mein Herr.
Mein Sohn ist aus einem fernen Land zurückgekommen, und er wird seinen Enkeln eine schöne Geschichte zu erzählen haben.
Die Priester werden seine Worte aufnehmen und sie an die kommenden Generationen weitergeben.« Die Städte kannten ihre Geschichte, ihre Eroberungen, ihre alten Götter, die Krieger, die das Land mit ihrem Blut verteidigt hatten, aus der Überlieferung der Priester. Auch wenn es jetzt neue Formen gab, um die Vergangenheit festzuhalten, war die Erinnerung der Priester das einzige, an das die Bewohner von Akbar glaubten. Jeder kann schreiben, was er will, doch niemand kann sich an etwas erinnern, das es nie gegeben hat.
»Und was werde ich zu erzählen haben?« fuhr die Frau fort.
»Ich habe weder Isebels Macht noch ihre Schönheit. Mein Leben gleicht den anderen. Meine Heirat wurde von meinen Eltern arrangiert, als ich noch ein Kind war. Die Hausarbeit, als ich erwachsen wurde, die Riten an den heiligen Tagen, der Ehemann, der immer anderweitig beschäftigt war. Solange er lebte, haben wir nie über etwas Wichtiges gesprochen. Er lebte für seine Geschäfte, und ich kümmerte mich um den Haushalt, und so haben wir die besten Jahre unseres Lebens verbracht.
Nach seinem Tode blieben mir nur die Armut und die Erziehung meines Sohnes. Wenn er erwachsen ist, wird er über die Meere fahren, und ich werde für niemanden mehr wichtig sein. Ich habe weder Haß noch Groll, ich bin mir nur meiner Nutzlosigkeit bewußt.« Elia schenkte sich ein zweites Glas ein. Sein Herz begann Alarmsignale auszusenden. Es gefiel ihm, bei dieser Frau zu sein. Die Liebe konnte eine erschreckendere Erfahrung sein, als vor einem Soldaten Ahabs zu stehen, der mit einem Pfeil auf sein Herz zielte. Wenn der Pfeil ihn traf, war er tot. Wenn ihn jedoch die Liebe träfe, müßte er die Folgen tragen.
>Ich habe mich immer nach Liebe gesehnt<, dachte er. Doch jetzt, wo er sie vor sich hatte – und er hatte sie vor sich, alles was er tun mußte, war, nicht vor ihr Reißaus zu nehmen –, überlegte er nur, wie er sie so schnell wie möglich vergessen könnte.
Seine Gedanken kehrten zu dem Tag zurück, an dem er in Akbar angekommen war. Nach seinem Exil am Bach Krith war er so müde und durstig gewesen, daß er sich an nichts erinnern konnte außer an den Augenblick, als er aus seiner Ohnmacht erwachte und sie sah, wie sie seine Lippen mit Wasser benetzte. Sein Gesicht war ihrem sehr nah gewesen, so nah wie nie zuvor in seinem Leben dem Gesicht einer Frau. Ihm war aufgefallen, daß sie die gleichen grünen Augen wie Isebel hatte, nur daß ihr Glanz anders war, als könnten sie die Zedern widerspiegeln, den Ozean, von dem er immer geträumt und den er noch nie gesehen hatte, ja sogar seine eigene Seele.
>Ich würde ihr das so gern sagen<, dachte er. >Doch ich weiß nicht wie. Es ist einfacher, von der Liebe Gottes zu sprechen.< Elia trank noch ein wenig. Sie bemerkte, daß etwas, was sie gesagt hatte, ihm nicht gefallen hatte, und beschloß daher das Thema zu wechseln.
»Ihr seid auf den Fünften Berg gestiegen?« Er nickte.
Sie hätte ihn gern gefragt, was er dort oben gesehen hatte und wie es ihm gelungen war, dem himmlischen Feuer zu entgehen.