Doch er fühlte sich sichtlich unbehaglich.
>Er ist ein Prophet. Er liest in meinem Herzens dachte sie.
Seit der Israelit in ihr Leben getreten war, hatte sich alles verändert. Sogar die Armut war leichter zu ertragen, denn dieser Fremde hatte etwas in ihr geweckt, das sie zuvor nicht gekannt hatte: die Liebe. Als ihr Sohn krank geworden war, hatte sie gegen ihre ganze Nachbarschaft gekämpft, um den Fremden bei sich im Haus zu behalten.
Sie wußte, daß für ihn von allem, was unter dem Himmel geschah, der Herr am wichtigsten war. Ihr war bewußt, daß er ein unerreichbarer Traum war, denn dieser Mann vor ihr konnte jeden Moment weggehen, Isebels Blut vergießen und niemals zurückkehren, um ihr zu berichten, was geschehen war.
Dennoch würde sie ihn weiter lieben, weil sie zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren hatte, was Freiheit war. Sie konnte ihn lieben, selbst wenn er es niemals erfahren sollte. Sie brauchte nicht seine Erlaubnis, um sich nach ihm zu sehnen, den ganzen Tag an ihn zu denken, ihn zum Abendessen zu erwarten und sich zu ängstigen, was für ein Komplott wohl gegen ihn im Gange war.
Dies war die Freiheit: fühlen, was ihr Herz begehrte, egal was die anderen davon halten mochten. Sie hatte schon mit Freunden und Nachbarn über die Anwesenheit des Fremden in ihrem Hause gekämpft. Gegen sich selbst brauchte sie nicht zu kämpfen.
Elia trank etwas Wein, entschuldigte sich und ging in sein Zimmer. Sie trat hinaus, freute sich an ihrem Sohn, der vor dem Hause spielte, und beschloß, einen kurzen Spaziergang zu machen.
Sie war frei, denn die Liebe befreit.
Elia starrte lange auf die Wand in seinem Zimmer. Dann endlich beschloß er, seinen Engel anzurufen.
»Meine Seele ist in Gefahr«, sagte er.
Der Engel schwieg. Elia wußte nicht recht, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, doch nun war es bereits zu spät: Er konnte ihn nicht grundlos anrufen.
»Wenn ich vor dieser Frau stehe, fühle ich mich nicht wohl.« »Ganz im Gegenteil«, antwortete der Engel. »Und das macht dich unsicher. Du könntest sie am Ende lieben.« Elia schämte sich, weil der Engel seine Seele kannte.
»Die Liebe ist gefährlich«, sagte er.
»Sehr gefährlich«, antwortete der Engel. »Und wenn schon!« Dann verschwand er.
Sein Engel war nicht von den Zweifeln geplagt, die seine Seele bestürmten. Ja, er kannte die Liebe. Er hatte gesehen, wie der König von Israel seinen Gott wegen Isebel aufgegeben hatte, wegen einer Prinzessin aus Sidon, die sein Herz erobert hatte.
Die Tradition berichtete, daß König Salomo seinen Thron wegen einer fremdländischen Frau verloren hatte. König David hatte einen seiner besten Freunde in den Tod geschickt, weil er sich in seine Frau verliebt hatte.
Dalilas wegen war Samson gefangengenommen worden und hatten die Philister ihm die Augen ausgestochen.
Wie konnte er da die Liebe nicht kennen? Die Geschichte war voll von tragischen Beispielen, auch unter seinen Freunden – und den Freunden seiner Freunde –, die nächtelang gewartet und gelitten hatten. Hätte er in Israel eine Frau, so hätte er seine Stadt kaum verlassen, als es ihm der Herr befahl, und er wäre jetzt tot.
>Ich kämpfe eine nutzlose Schlacht<, dachte er. >Die Liebe wird diesen Kampf gewinnen, und ich werde sie bis ans Ende meiner Tage lieben. Herr, schick mich wieder zurück nach Israel, damit ich dieser Frau niemals sagen muß, was ich für sie empfinde. Denn sie liebt mich nicht und wird mir sagen, daß ihr Herz mit dem ihres heldenhaften Mannes begraben wurde.< Am folgenden Tag traf sich Elia wieder mit dem Kommandanten. Er erfuhr, daß noch einige Zelte mehr aufgebaut worden waren.
»Wie groß ist jetzt die Anzahl der Krieger?« fragte er. »Einem Feind von Isebel gebe ich keine Auskunft.« »Ich bin Berater des Stadthauptmanns«, entgegnete Elia. »Er hat mich gestern nachmittag zu seinem Gehilfen ernannt, und Ihr wißt es, und daher schuldet Ihr mir eine Antwort.« Der Kommandant hatte nicht übel Lust, dem Leben des Fremden ein Ende zu bereiten.
»Auf zwei Soldaten der Assyrer kommt einer von uns«, antwortete er schließlich.
Elia wußte, daß der Feind eine viel größere Übermacht brauchte.
»Wir nähern uns dem idealen Augenblick, um die Friedensverhandlungen zu beginnen«, sagte er. »Sie werden uns für großmütig halten, und wir werden bessere Bedingungen aushandeln können. Jeder General weiß, daß zur Eroberung einer Stadt fünf Angreifer auf einen Verteidiger nötig sind.« »Sie werden diese Zahl noch erreichen, wenn wir nicht sofort angreifen.« »Selbst ihrer Versorgungseinheit gelingt es nicht, ausreichend Wasser für so viele Männer zu beschaffen. Und da kommt der Moment, in dem wir unsere Unterhändler losschicken können.« »Und wann genau ist das?« »Wir werden die Anzahl der assyrischen Krieger noch etwas anwachsen lassen. Wenn die Lage unerträglich wird, sind sie gezwungen anzugreifen, doch dann wird auf drei oder vier von ihnen ein Soldat von uns kommen. Und sie wissen, daß sie geschlagen werden. Dann werden unsere Emissäre den Frieden, den freien Durchzug und den Verkauf von Wasser anbieten. So stellt es sich der Stadthauptmann vor.« Der Kommandant sagte nichts und ließ den Fremden gehen.
Selbst wenn Elia tot war, konnte der Stadthauptmann auf dieser Idee beharren, und der Kommandant schwor sich, den Stadthauptmann dann zu töten. Danach würde er Selbstmord begehen, um dem Zorn der Götter zu entgehen.
Einstweilen würde er es auf gar keinen Fall zulassen, daß sein Volk vom Geld verraten würde.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte Elia immer und immer wieder, wenn er nachmittags durch das Tal wanderte.
»Laß nicht zu, daß mein Herz hier in Akbar gefangengehalten wird.« Einem Brauch der Propheten folgend, den er aus seiner Kindheit kannte, geißelte er sich jedesmal, wenn er an die Witwe dachte. Von der Peitsche waren seine Schultern bald nur noch rohes Fleisch, und er fiel zwei Tage lang in ein fiebriges Delirium. Als er wieder erwachte, war das erste, was er sah, das Gesicht der Frau. Sie behandelte seine Wunden, rieb sie mit Olivenöl ein. Da er zu schwach war, um in den Wohnraum hinunterzusteigen, brachte sie ihm sein Essen hinauf.
Sobald er wieder gesund war, nahm er seine Wanderungen im Tal wieder auf.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte er erneut. »Mein Herz ist schon in Akbar gefangen, doch mein Körper kann die Reise noch antreten.« Der Engel erschien. Es war nicht der Engel des Herrn, den er oben auf dem Berg gesehen hatte, sondern sein Schutzengel, an dessen Stimme er schon gewohnt war.
»Der Herr erhört die Gebete derer, die den Haß vergessen wollen. Doch sein Ohr ist taub für die, die der Liebe entrinnen wollen.« Sie nahmen das Abendessen immer zu dritt ein. Wie der Herr versprochen hatte, mangelte es nie an Mehl im Topf und an Öl im Krug.
Während der Mahlzeiten wurde nur selten gesprochen. An einem Abend jedoch fragte der Junge: »Was ist ein Prophet?« »Jemand, der immer dieselben Stimmen hört, die er schon als Kind gehört hat. Und der noch an sie glaubt. So kann er erfahren, was die Engel denken.« »Ja, ich weiß, wovon Ihr redet«, sagte der Junge. »Ich habe Freunde, die niemand sonst sieht.« »Vergiß sie nie, auch wenn die Erwachsenen sagen, daß dies Unsinn sei. So wirst du immer wissen, was Gott will.« »Ich werde die Zukunft kennen wie die Weissager von Babylon«, sagte der Junge.
»Die Propheten kennen die Zukunft nicht. Sie geben nur die Worte wieder, die ihnen der Herr im Augenblick eingibt.
Deshalb bin ich hier, ohne zu wissen, wann ich in mein Land zurückkehre. Er wird es mir nicht sagen, bevor es notwendig ist.« Die Augen der Frau trübten sich. Ja, eines Tages würde er gehen.
Elia rief den Herrn nicht mehr an. Er hatte beschlossen, daß er die Witwe und ihren Sohn mit sich nehmen würde, wenn der Augenblick kam, Akbar zu verlassen. Er würde nichts darüber sagen, bis die Stunde gekommen war.