»Ich kann hier nichts mehr tun«, sagte Elia. »Wann werde ich nach Israel zurückkehren?« »Wenn du gelernt hast, wieder aufzubauen«, antwortete der Engel. »Doch denk an das, was Gott Mose vor einem Kampf gelehrt hat. Genieße jeden Augenblick, damit du später nichts bereust, noch das Gefühl hast, deine Jugend verloren zu haben. Denn sonst kommt es so: Mit einem Mädchen wirst du dich verloben; aber ein anderer wird es sich nehmen. Ein Haus wirst du bauen; aber du wirst nicht darin wohnen. Einen Weinberg wirst du pflanzen, aber du wirst seine Früchte nicht genießen.
Gott gibt jedem Alter des Menschen seine dazugehörigen Sorgen.« Und Elia wanderte lange und versuchte zu begreifen, was er gehört hatte. Als er sich umdrehte, um zurück nach Akbar zu gehen, sah er die Frau, die er liebte, ganz in der Nähe vor dem Fünften Berg auf einem Stein sitzen.
>Was macht sie dort? Weiß sie etwa von dem Richtspruch, vom Todesurteil und von den Gefahren, die uns jetzt erwarten?< Er mußte sie unverzüglich warnen. Und er ging zu ihr.
Sie bemerkte ihn und winkte. Da waren die Worte des Engels wie weggewischt, denn Elias Unsicherheit kehrte schlagartig zurück. Er versuchte so zu tun, als sei er mit den Problemen der Stadt beschäftigt, damit sie nicht bemerkte, wie sehr sein Herz und sein Verstand verwirrt waren.
»Was macht Ihr hier?« fragte er, als er vor ihr stand.
»Ich kam, um ein wenig Inspiration zu suchen. Die Schrift, die ich lerne, ließ mich daran denken, wie die Täler, die Berge, die Stadt Akbar gezeichnet sind. Kaufleute haben mir Tusche in allen Farben gegeben, damit ich für sie schreibe.
Jetzt will ich sie dazu verwenden, die Welt zu beschreiben, in der ich lebe, aber ich weiß, daß es schwierig ist: Obwohl ich alle Farben habe, kann nur der Herr sie so harmonisch mischen.« Sie starrte auf den Fünften Berg. Sie war eine ganz andere Frau geworden, als die, die er wenige Monate zuvor beim Brennholzsammeln angetroffen hatte. Daß sie sich allein mitten in die Wüste wagte, flößte ihm Achtung und Vertrauen ein.
»Warum tragen alle Berge einen Namen, nur der Fünfte Berg nicht?« fragte Elia.
»Um keinen Streit zwischen den Göttern zu stiften«, antwortete sie. »Man sagte uns, wenn der Mensch diesen Berg nach einem bestimmten Gott benannt hätte, wären die anderen zornig geworden und hätten die Erde zerstört. Daher heißt er der Fünfte Berg, weil es der fünfte Berg ist, den wir jenseits der Mauern sehen. So ist keiner gekränkt – und das Universum bleibt unversehrt.« Sie schwiegen eine Weile. Die Frau brach das Schweigen.
»Ich habe nicht nur über die Farben nachgedacht, sondern auch über die Gefahr der Byblos-Schrift. Sie könnte die phönizischen Götter und Gott unseren Herrn erzürnen.« »Es gibt nur den Herrn«, unterbrach Elia. »Und alle zivilisierten Länder haben eine Schrift.« »Die ist aber nicht überall dieselbe. Als Kind ging ich immer zum Marktplatz, um dem Wortemaler bei der Arbeit für die Kaufleute zuzusehen. Seine Zeichnungen, die auf der ägyptischen Schrift basierten, verlangten viel Wissen und Können. Jetzt befindet sich das alte, mächtige Ägypten im Niedergang, hat kein Geld mehr, um irgend etwas zu kaufen, und niemand benutzt mehr seine Schrift. Die Seefahrer von Tyrus und Sidon verbreiten die Schrift von Byblos auf der ganzen Welt. Die heiligen Worte und Zeremonien können auf Tontafeln geschrieben und von Land zu Land weitergereicht werden. Was wird aus der Welt, wenn skrupellose Menschen beginnen, die Rituale zu benutzen, um ins Universum einzugreifen?« Elia begriff, was die Frau sagen wollte. Die Schrift von Byblos beruhte auf einem einfachen System: Man brauchte nur die ägyptischen Zeichnungen in Laute umzuwandeln und dann jedem Laut einen Buchstaben zuzuweisen. Brachte man dann die Buchstaben in eine Ordnung, konnte man alle nur möglichen Laute schaffen und alles beschreiben, was es im Universum gab.
Einige dieser Laute waren schwer auszusprechen. Die Schwierigkeit wurde von den Griechen gemeistert, die den 22 Buchstaben noch 5 hinzufügten, die sie Vokale nannten. Sie nannten das Ganze dann Alphabet.
Dies vereinfachte die Handelsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Kulturen. Das ägyptische System verlangte viel Platz und Geschicklichkeit, um die Gedanken zu zeichnen, und zudem ein großes Wissen, um sie zu deuten. Es war den eroberten Völkern aufgezwungen worden, hatte indes den Niedergang des Reiches nicht überdauert. Das System von Byblos hingegen breitete sich in der Welt rasch aus, und seine Anwendung war nicht mehr von der Handelsmacht Phöniziens abhängig.
Die Methode von Byblos mit ihrer griechischen Anpassung gefiel den Kaufleuten der verschiedenen Völker. Seit undenklichen Zeiten waren sie es, die darüber entschieden, was in der Geschichte überliefert wurde oder was mit dem Tode eines Königs oder einer bestimmten Persönlichkeit verschwinden sollte. Alles wies darauf hin, daß die phönizische Erfindung sich bei den Kaufleuten weltweit durchsetzen und daß sie Seefahrer, Könige, verführerische Prinzessinnen, Weinproduzenten und Glasbläsermeister überleben würde.
»Wird Gott aus den Worten verschwinden?« fragte die Frau.
»Er wird in ihnen bleiben«, antwortete Elia. »Doch jeder Mensch wird Ihm gegenüber für alles verantwortlich sein, was er schreibt.« Sie zog eine Tontafel mit etwas Geschriebenem darauf aus ihren Kleidern.
»Was bedeutet das?« fragte Elia.
»Das ist das Wort Liebe.« Elia hielt die Tafel in den Händen und wagte nicht, sie zu fragen, warum sie sie ihm gegeben hatte. Auf diesem Stück Ton faßten einige Striche den Grund dafür zusammen, daß die Sterne weiterhin am Himmel standen und die Menschen auf Erden wandelten.
Er wollte sie ihr zurückgeben, doch sie lehnte ab.
»Ich habe es für Euch geschrieben. Ich weiß um Eure Aufgabe, weiß, daß Ihr eines Tages gehen müßt und zu einem Feind meines Landes werdet, denn Ihr wollt Isebel vernichten. An diesem Tag werde ich vielleicht an Eurer Seite stehen, Euch unterstützen und helfen, damit Ihr Eure Aufgabe erfüllen könnt.
Oder vielleicht kämpfe ich auch gegen Euch, weil das Blut Isebels auch das Blut meiner Väter ist. Dieses Wort, das Ihr jetzt in Händen haltet, ist voller Geheimnisse. Niemand weiß, was es im Herzen einer Frau weckt – nicht einmal die Propheten, die mit Gott reden.« »Ich kenne das Wort, das Ihr geschrieben habt«, sagte Elia, indem er die Tafel im Saum seines Gewandes verwahrte. »Ich habe Tag und Nacht dagegen gekämpft, denn wenn ich auch nicht weiß, was es im Herzen einer Frau weckt, so weiß ich wohl, was es einem Mann tun kann. Ich habe genügend Mut, um den König von Israel herauszufordern, die Prinzessin von Sidon, den Rat von Akbar, doch dieses eine Wort – Liebe – erschreckt und verstört mich zutiefst. Noch ehe Ihr es auf die Tafel gezeichnet habt, haben Eure Augen es schon in mein Herz geschrieben.« Die beiden schwiegen. Da war der Tod des Assyrers, eine angespannte Stimmung in der Stadt, der Ruf des Herrn konnte jeden Augenblick erfolgen. Doch das Wort, das sie geschrieben hatte, war mächtiger als alles.
Elia streckte seine Hand aus, und sie hielt sie fest. Sie blieben so sitzen, bis die Sonne sich hinter dem Fünften Berg verbarg.
»Danke«, sagte sie auf dem Rückweg. »Ich habe lange schon einen Abend mit dir verbringen wollen.« Als sie zu Hause ankamen, erwartete sie ein Bote des Stadthauptmanns. Er bat Elia, umgehend mitzukommen.
»Ihr habt meine Unterstützung mit Feigheit heimgezahlt«, sagte der Stadthauptmann. »Was soll ich mit Euch anfangen?« »Ich werde keine Sekunde länger leben, als der Herr es wünscht«, antwortete Elia. »Er entscheidet darüber, nicht Ihr.« Der Stadthauptmann bewunderte Elias Mut.
»Ich könnte Euch jetzt enthaupten lassen. Oder durch die Straßen der Stadt schleifen lassen und verbreiten, Ihr hättet einen Fluch über unser Volk gebracht«, sagte er. »Und es wäre nicht der Beschluß Eures Einzigen Gottes.« »Was meinem Schicksal vorbestimmt ist, wird geschehen. Doch ich möchte, daß Ihr wißt, daß ich nicht geflohen bin. Die Soldaten des Kommandanten haben mich von Euch ferngehalten. Er will den Krieg und setzt alles daran, daß er stattfindet.« Der Stadthauptmann beschloß, keine Zeit mehr mit dieser nutzlosen Diskussion zu vertun. Er mußte dem israelitischen Propheten seinen Plan erklären.