»Ich hatte mir geschworen, Euch eines Tages Eure Großherzigkeit zu vergelten. Ich habe Wort gehalten. Als die Assyrer in den Palast eindrangen, hat ihnen einer der Diener gesagt, daß sich der, den sie suchten, im Haus der Witwe versteckt hielte. Während sie noch unterwegs waren, konnte der echte Stadthauptmann fliehen.« Elia achtete nicht auf ihn. Feuer prasselte überall, und die Schreie hatten nicht aufgehört.
Trotz des Durcheinanders hielt eine Gruppe noch Disziplin. Wie auf einen unsichtbaren Befehl hin zogen sich die Assyrer zurück.
Die Schlacht von Akbar war zu Ende.
>Sie ist tot<, sagte er sich. >Ich will nicht dorthin zurück, weil sie bereits tot ist. Oder sie wurde durch ein Wunder gerettet und kommt selber zu mir.< Sein Herz hieß ihn indes aufzustehen und zu dem Haus zu gehen, in dem sie lebten. Elia kämpfte mit sich selbst. Es war nicht allein die Liebe zu der Frau, die in diesem Augenblick auf dem Spiel stand, sondern sein ganzes Leben, sein Vertrauen in die Ratschlüsse Gottes, der Aufbruch in seine Heimatstadt, der Gedanke daran, daß er einen Auftrag hatte und ihn würde erfüllen können…
Er blickte um sich, suchte nach einem Schwert, um seinem Leben ein Ende zu machen, doch die Assyrer hatten alle Waffen aus Akbar mitgenommen. Er erwog, sich in die Flammen der brennenden Häuser zu stürzen, doch er hatte Angst vor den Schmerzen.
Einen Moment war er wie gelähmt. Erst allmählich wurde ihm wieder bewußt, was vorgefallen war. Die Frau und ihr Sohn hatten diese Welt zweifellos verlassen, doch er mußte sie den Bräuchen entsprechend bestatten. Die Arbeit für den Herrn – ob es Ihn nun gab oder nicht – war in diesem Moment seine einzige Stütze. Nachdem er seine religiöse Pflicht erfüllt hatte, würde er sich dem Schmerz und dem Zweifel hingeben.
Immerhin bestand die Möglichkeit, daß sie noch lebten. Er konnte also nicht einfach untätig stehenbleiben.
»Ich will ihre verkohlten Gesichter nicht sehen, das von der Haut gelöste Fleisch. Ihre Seelen wandeln bereits frei im Himmel.« Dennoch machte er sich, hustend und halb erstickt vom Rauch, der alles einnebelte, auf den Weg zum Haus. Der Feind hatte sich zurückgezogen, doch nun machte sich Panik breit, und die Menschen liefen ziellos umher und forderten unter Tränen ihre Toten von den Göttern zurück.
Er suchte jemanden, der ihm helfen könnte. Der einzige Mann, den er erblickte, befand sich in tiefstem Schockzustand. Er war weit weg von hier.
»Ich gehe wohl besser direkt hin, ohne erst Hilfe zu holen.« Er kannte Akbar so gut wie seine Heimatstadt, und es gelang ihm, sich zu orientieren, obschon er viele Orte nicht wiedererkannte, an denen er sonst vorbeikam. Die Schreie auf der Straße machten jetzt mehr Sinn. Das Volk begann zu begreifen, daß eine Tragödie geschehen war und daß es darauf reagieren mußte.
»Hier ist ein Verletzter«, rief jemand.
»Wir brauchen mehr Wasser! Wir werden das Feuer nicht löschen können«, rief ein anderer.
»Helft mir! Mein Mann ist eingeklemmt!« Nun stand er vor dem Haus, das ihn viele Monate zuvor wie einen Freund aufgenommen hatte. Unweit saß eine alte Frau nackt mitten auf der Straße. Elia versuchte ihr zu helfen, doch sie schob ihn weg: »Sie stirbt!« schrie die Alte. »So tut doch etwas! Schafft die Wand weg, unter der sie liegt!« Und sie begann hysterisch zu schreien. Elia packte sie bei den Armen und schob sie weit weg, weil sie mit ihrem Geschrei das Wimmern der Frau übertönte. Das Haus war nur noch ein Trümmerhaufen, Dach und Wände waren eingestürzt, alles eine einzige unkenntliche Masse. Er bahnte sich einen Weg durch das Geröll, das den Boden bedeckte, und gelangte an den Ort, wo einst das Zimmer der Frau gewesen war.
Nun vernahm er, durch den Lärm von der Straße hindurch, ein Wimmern. Es war ihre Stimme.
Instinktiv schüttelte er den Staub von seinen Kleidern, wie um sich schön zu machen, schweigend konzentrierte er sich. Das Feuer knisterte, die Hilferufe der Verschütteten in den benachbarten Häusern gellten an seine Ohren: Wollten sie endlich still sein, damit er die Frau und ihren Sohn finden konnte! Lange geschah nichts, dann, endlich, hörte er unter den Bohlen zu seinen Füßen ein Kratzen.
Da kniete er nieder und begann wie ein Verrückter zu graben.
Dann berührte seine Hand etwas Warmes: Es war Blut.
»Stirb nicht, bitte«, sagte er.
»Laß die Trümmer auf mir liegen«, hörte er ihre Stimme sagen.
»Ich möchte nicht, daß du mein Gesicht siehst. Geh und hilf meinem Sohn.« Er grub weiter, und die Stimme sagte wieder: »Such den Leichnam meines Sohnes. Bitte tu, um was ich dich bitte.« Elia ließ den Kopf hängen und begann leise zu weinen.
»Ich weiß nicht, wo er verschüttet ist«, sagte er. »Bitte geh nicht. Ich möchte so gern, daß du bei mir bleibst. Du mußt mich lehren zu lieben, mein Herz ist bereit.« »Bevor du gekommen bist, habe ich mir jahrelang den Tod gewünscht. Er wird mich erhört haben und ist nun gekommen, um mich zu holen.« Sie seufzte. Elia biß sich auf die Lippen und sagte nichts.
Jemand berührte ihn an der Schulter.
Er wandte sich erschrocken um und sah den Jungen. Er war mit Staub und Ruß bedeckt, doch er schien unverletzt.
»Wo ist meine Mutter?« fragte er.
»Hier bin ich, mein Sohn«, antwortete die Stimme unter den Trümmern. »Bist du verletzt?« Der Junge begann zu weinen. Elia nahm ihn in die Arme.
»Du weinst, mein Sohn«, sagte die Stimme, die immer schwächer wurde. »Weine nicht. Deine Mutter hat sich schwer damit getan, zu lernen, daß das Leben einen Sinn hat. Ich hoffe, es ist mir gelungen, es dir beizubringen. Wie sieht die Stadt aus, in der du geboren wurdest?« Elia und der Junge schwiegen fest aneinandergeklammert.
»Sie sieht gut aus«, log Elia. »Einige Krieger sind gestorben, doch die Assyrer haben sich schon zurückgezogen. Sie waren hinter dem Stadthauptmann her, um den Tod eines ihrer Generäle zu rächen.« Wieder Schweigen. Und abermals, immer schwächer, die Stimme.
»Sag mir, daß die Stadt gerettet ist.« Er fühlte, daß sie jeden Augenblick von ihnen gehen würde.
»Die Stadt ist unversehrt. Und deinem Sohn geht es gut.« »Und dir?« »Ich habe überlebt.« Er wußte, daß er mit diesen Worten ihre Seele befreite und sie in Frieden sterben ließ.
»Bitte meinen Sohn niederzuknien«, sagte die Frau nach einer Weile. »Ich möchte, daß du mir im Namen Gottes, deines Herrn, etwas schwörst.« »Was immer du willst. Alles, was du willst.« »Du hast mir einmal gesagt, daß der Herr allgegenwärtig ist, und ich habe es geglaubt. Du sagtest, daß die Seelen nicht auf den Gipfel des Fünften Berges gingen, und ich habe es dir auch geglaubt. Aber du hast mir nicht erklärt, wohin sie gehen.
Und dies ist der Schwur: Ihr werdet nicht um mich weinen, einer wird für den anderen sorgen, bis der Herr erlaubt, daß ein jeder seinen eigenen Weg geht. Von nun an wird sich meine Seele mit allem vereinen, was ich auf dieser Erde kennengelernt habe: Ich bin das Tal, die Berge ringsum, die Stadt, die Menschen, die durch ihre Straßen gehen. Ich bin ihre Verwundeten und ihre Bettler, ihre Soldaten, ihre Priester, ihre Kaufleute, ihre Aristokratie. Ich bin der Boden unter deinen Füßen und der Brunnen, der den Durst aller stillt.
Weint nicht um mich, denn es gibt keinen Grund, traurig zu sein. Von nun an bin ich Akbar, und die Stadt ist schön.« Die Stille des Todes kam, der Wind hörte auf zu wehen. Elia hörte weder die Schreie von draußen noch das in den Nachbarhäusern prasselnde Feuer. Er hörte nur noch die fast greifbare Stille.
Dann führte Elia den Jungen hinweg, zerriß seine Kleider und brüllte, zum Himmel gewandt, mit der ganzen Kraft seiner Lungen: »Mein Herr und Gott! Deinetwegen habe ich Israel verlassen und konnte Dir mein Blut nicht schenken wie die anderen Propheten, die dortgeblieben sind. Ich wurde von meinen Freunden Feigling und von meinen Feinden Verräter genannt.