Ich beschloß, die Nacht wach zu bleiben, um zu sehen, ob du und Mama sich in ihrem Zimmer treffen. Ich sah die ersten Soldaten hereinkommen.« Elia erhob sich. Er suchte den Felsen vor dem Fünften Berg, wo er an jenem Nachmittag mit der Frau dem Sonnenuntergang zugeschaut hatte.
>Ich will nicht dorthin gehen<, dachte er. >Ich verzweifle nur noch mehr.< Doch eine Kraft zog ihn in diese Richtung. Als er dort angelangt war, weinte er bittere Tränen. Wie die Stadt Akbar war auch dieser Ort durch einen Stein gekennzeichnet, und Elia war der einzige im ganzen Tal, dem er etwas bedeutete. Keine neuen Bewohner würden ihn lobpreisen, noch Liebespaare ihn blank reiben.
Er nahm den Jungen in seine Arme und schlief wieder ein.
»Ich bin durstig und hungrig«, sagte der Junge zu Elia, als dieser aufwachte.
»Wir können zu den Hirten gehen, die hier in der Nähe leben.
Ihnen wird nichts geschehen sein, da sie nicht in Akbar wohnen.« »Wir müssen die Stadt wieder aufbauen. Meine Mutter hat gesagt, sie sei Akbar.« Welche Stadt denn? Es gab keinen Palast, keinen Markt und keine Mauern mehr. Anständige Leute waren zu Straßenräubern geworden, junge Soldaten hingemetzelt. Die Engel würden nicht zurückkehren – doch das war von allem sein geringstes Problem.
»Glaubst du, daß die Zerstörung, der Schmerz, die Toten von gestern einen Sinn hatten? Glaubst du, daß es notwendig ist, Tausende von Leben zu zerstören, um irgend jemandem irgend etwas damit beizubringen?« Der Junge blickte ihn entsetzt an.
»Vergiß, was ich gesagt habe«, sagte Elia. »Wir werden zu den Hirten gehen.« »Und wir werden die Stadt wieder aufbauen«, beharrte der Junge.
Elia antwortete nicht. Er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, seine Autorität bei einem Volk wieder durchzusetzen, das ihn beschuldigte, Unglück über die Stadt gebracht zu haben. Der Stadthauptmann war geflohen, der Kommandant tot, Tyrus und Sidon würden höchstwahrscheinlich unter fremde Herrschaft fallen. Vielleicht hatte die Frau recht. Die Götter änderten sich immer – und diesmal war es der Herr gewesen, der gegangen war.
»Wann kehren wir nach Akbar zurück?« fragte der Junge abermals.
Elia packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn heftig.
»Blick zurück! Du bist kein blinder Engel, sondern ein Junge, der beobachten wollte, was seine Mutter tat. Was siehst du?
Erkennst du die Rauchsäulen, die dort aufsteigen? Weißt du, was sie bedeuten?« »Du tust mir weh! Ich will hier weg!« Erschrocken hielt Elia inne. Der Junge entwand sich seinem Griff und begann auf die Stadt zuzulaufen. Es gelang Elia, ihn einzuholen, und er kniete vor ihm nieder.
»Vergib mir. Ich weiß nicht, was ich tue.« Der Junge schluchzte, doch keine einzige Träne rann über sein Gesicht. Elia setzte sich neben ihn und wartete, bis er sich beruhigt hatte.
»Geh nicht«, bat er. »In dem Augenblick, in dem deine Mutter von uns gegangen ist, habe ich versprochen, bei dir zu bleiben, bis du deinen eigenen Weg gehen kannst.« »Du hast aber auch versprochen, daß die Stadt unversehrt sei.
Und sie hat gesagt…« »Du brauchst es nicht zu wiederholen. Ich bin verwirrt, in meiner eigenen Schuld verloren. Gib mir Zeit, daß ich mich selbst wiederfinde. Verzeih mir, ich wollte dich nicht verletzen.« Der Junge umarmte ihn. Doch seine Augen blieben trocken.
Sie gelangten zum Haus in der Mitte des Tales. Eine Frau stand an der Tür, und zwei kleine Kinder spielten davor. Die Herde war im Pferch – das bedeutete, daß der Hirte an jenem Morgen nicht in die Berge aufgebrochen war.
Die Frau blickte den Mann und den Jungen, die auf sie zukamen, erschrocken an. Sie wollte sie wegschicken, doch die Tradition – und die Götter – verlangten, daß sie ihnen Gastrecht gewährte. Wenn sie sie jetzt nicht aufnahm, würden dereinst ihre Kinder dafür büßen müssen.
»Ich habe kein Geld«, sagte sie. »Doch ich kann euch ein wenig Wasser und etwas zu essen geben.« Sie setzten sich auf die kleine Veranda mit dem Strohdach, und sie brachte getrocknete Früchte und einen Krug Wasser. Sie aßen schweigend und hatten zum ersten Mal wieder das Gefühl von Alltag. Die Kinder waren erschreckt über ihren Anblick ins Haus geflüchtet.
Als er seinen Teller leer gegessen hatte, fragte Elia nach dem Hirten.
»Er wird bald kommen«, antwortete sie. »Wir haben den Lärm bis hier heraus gehört, und heute morgen kam jemand hier vorbei, der sagte, Akbar sei zerstört. Nun ist mein Mann nachsehen gegangen, was geschehen ist.« Die Kinder riefen, und sie ging ins Haus.
>Es bringt nichts, den Jungen umstimmen zu wollen<, dachte Elia. >Er wird keine Ruhe geben, bis ich nicht tue, worum er mich bittet. Ich muß ihm zeigen, daß es unmöglich ist, nur so wird er sich überzeugen lassen.< Das Essen und das Wasser wirkten Wunder. Er fühlte sich wieder als ein Teil der Welt.
Ein Gedanke jagte den anderen, und er suchte nach Lösungen statt nach Antworten.
Wenig später kam der Hirte. Zuerst blickte er ängstlich auf den Mann und den Jungen. Doch dann begriff er: »Ihr seid sicher Flüchtlinge aus Akbar«, sagte er. »Da komme ich gerade her.« »Und was geschieht dort?« fragte der Junge.
»Die Stadt ist zerstört, und der Stadthauptmann auf und davon.
Die Götter brachten Chaos in die Welt.« »Wir haben alles verloren, was wir hatten«, sagte Elia. »Wir wären Euch dankbar, wenn Ihr uns aufnehmen könntet.« »Ich denke, meine Frau hat euch bereits aufgenommen und gespeist. Jetzt müßt ihr aufbrechen und euch dem Unabwendbaren stellen.« »Ich weiß nicht, was ich mit einem Jungen anfangen soll. Ich brauche Hilfe.« »Natürlich wißt Ihr es. Er ist jung, aufgeweckt und voller Energie. Ihr habt in Eurem Leben viele Siege errungen und viele Niederlagen einstecken müssen. Beides zusammen wird Euch helfen, zur Weisheit zu finden.« Der Mann untersuchte Elias Armverletzung, die er nicht weiter schlimm fand. Als er mit einigen Kräutern und einem Stück Stoff zurückkam, half ihm der Junge, den Umschlag anzulegen, und ließ sich nicht abwimmeln, als der Hirte meinte, er käme allein zurecht: »Ich habe meiner Mutter versprochen, mich um diesen Mann zu kümmern.« Der Hirte lachte.
»Ihr Sohn ist ein Mann, der zu seinem Wort steht.« »Ich bin nicht sein Sohn. Und auch er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht. Er wird die Stadt wieder aufbauen, denn er muß meine Mutter wieder zurückbringen, so wie er es mit mir getan hat.« Elia begriff plötzlich, was den Jungen bewegte, doch noch bevor er etwas sagen konnte, rief der Hirte ins Haus: »Ich muß gleich wieder weg.« Und zu den beiden sagte er: »Mit dem Aufbauen fangt lieber gleich an. Es wird lange dauern, bis alles wieder so ist, wie es einmal war.« »Es wird niemals wieder so.« »Ihr mögt ein weiser junger Mann sein und vieles verstehen, was ich nicht verstehe. Doch die Natur hat mich etwas gelehrt, was ich nie vergessen habe: Ein Mensch hängt vom Wetter und den Jahreszeiten ab. Und nur so kann ein Hirte die Schläge der Natur überleben. Er sorgt für seine Herde, kümmert sich um jedes Tier, als wäre es das einzige, versucht den Muttertieren mit ihren Jungen zu helfen, entfernt sich nie weit von einem Ort, an dem die Tiere trinken können. Dennoch kommt hin und wieder eins seiner Schafe um. Es wird von einer Schlange gebissen, von einem wilden Tier angefallen oder es stürzt in einen Abgrund. Das Unabwendbare geschieht immer.« Elia sah nach Akbar hinüber und erinnerte sich an das Gespräch mit dem Engel. Das Unabwendbare geschieht immer.