Ein weiterer Tag verging. Sie hatten die meisten Leichen schon zusammengetragen, als sich eine weitere Frau näherte.
»Ich habe nichts zu essen«, sagte sie.
»Wir auch nicht«, antwortete Elia. »Gestern und heute haben wir uns zu dritt geteilt, was für einen gedacht war. Versucht, irgendwo etwas Eßbares zu finden, und gebt mir dann Bescheid.« »Wie soll ich es finden?« »Fragt die Kinder. Sie wissen alles.« Seit er ihm Wasser angeboten hatte, schien der Junge seine Lebensfreude wiedergefunden zu haben. Elia schickte ihn zum Alten, damit er ihm beim Zusammentragen des Mülls und der Trümmer half, doch es gelang ihm nicht, ihn lange bei der Arbeit zu halten. Jetzt spielte er mit den ändern Jungen in einer Ecke des Platzes.
>Es ist auch besser so. Er wird noch genug Schweiß vergießen, wenn er erwachsen ist.< Doch er bereute nicht, daß er ihn eine ganze Nacht unter dem Vorwand hungern lassen hatte, daß er dafür arbeiten müsse. Hätte er ihn wie ein armes Waisenkind behandelt, als Opfer der Grausamkeit mörderischer Krieger, wäre er niemals aus der Niedergeschlagenheit wieder aufgetaucht, in der er versunken war. Jetzt wollte er ihn ein paar Tage in Ruhe lassen, damit er seine eigenen Antworten auf das fand, was geschehen war.
»Wie können denn Kinder etwas wissen?« hakte die Frau nach, die ihn um etwas zu essen gebeten hatte.
»Seht selbst.« Die Frau und der Alte, die Elia halfen, sahen, wie sie mit den Kindern redete, die auf der Straße spielten. Sie sagten etwas.
Sie wandte sich um und lächelte und verschwand an einer Ecke des Platzes.
»Woher wußtet Ihr, daß die Kinder es wissen würden?« fragte der Alte.
»Weil auch ich einmal ein Kind war und weiß, daß die Kinder keine Vergangenheit haben«, sagte er und dachte an das Gespräch mit dem Hirten. »Sie waren zutiefst verstört von der Nacht der Invasion, doch jetzt kümmern sie sich nicht mehr darum. Die Stadt ist zu einem riesigen Spielplatz geworden, in dem sie kommen und gehen können, ohne gestört zu werden.
Klar würden sie schließlich die Nahrungsmittel finden, die die Bewohner gehortet hatten, um die Belagerung von Akbar zu überstehen.
Ein Kind kann einem Erwachsenen immer drei Dinge lehren: grundlos fröhlich zu sein, immer mit irgend etwas beschäftigt zu sein und nachdrücklich das zu fordern, was es will. Ich bin wegen dieses Jungen wieder nach Akbar zurückgekehrt.« An jenem Nachmittag kamen noch andere Alte und Frauen hinzu, um beim Zusammentragen der Toten zu helfen. Die Kinder verscheuchten die Raubvögel und brachten Holzstücke und Stoffetzen. Bei Anbruch der Nacht zündete Elia den riesigen Scheiterhaufen an. Die Überlebenden von Akbar schauten schweigend auf den Rauch, der zum Himmel stieg.
Elia fiel fast um vor Erschöpfung. Bevor er einschlief, hatte er jedoch wieder dieses Gefühl, das ihn schon am Morgen beschlichen hatte: Irgend etwas sehr Wichtiges kämpfte verzweifelt darum, in sein Gedächtnis zurückzukommen. Es war nichts, was er in seiner Zeit in Akbar gelernt hatte, sondern eine alte Geschichte, die all dem einen Sinn zu geben schien, was jetzt geschah.
Da rang ein Mann mit Jakob, bis die Morgenröte anbrach. Und da er sah, daß er ihn nicht übermochte, rührte er das Gelenk seiner Hüfte an; und das Gelenk der Hüfte Jakobs ward über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: »Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an.« Aber er antwortete: »Ich lasse dich nicht gehen, du segnest mich denn.« Er sprach: »Wie heißest du?« Er antwortete: »Jakob.« Er sprach: »Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist abgelegen.« Elia schreckte aus seinem Traum auf und blickte hoch zum Firmament. Das war die Geschichte, die ihm nicht eingefallen war!
Vor langer Zeit hatte der Patriarch Jakob seine Zelte aufgeschlagen, und jemand war in sein Zelt gekommen und hatte mit ihm bis zur Morgenröte gekämpft. Jakob hatte den Kampf aufgenommen, obwohl er wußte, daß sein Gegner der Herr war. Als es Tag wurde, war er immer noch unbesiegt. Und da hatte Gott ihn gesegnet.
Sie wurde von Generation zu Generation weitergegeben, damit niemand vergaß: Manchmal ist es notwendig, mit Gott zu kämpfen. Alle Menschen mußten irgendwann in ihrem Leben ein Unglück durchmachen. Es konnte die Zerstörung einer Stadt sein, der Tod eines Kindes, eine unbegründete Anklage, eine Krankheit, die sie für immer zu Invaliden machte. In diesem Augenblick forderte sie Gott heraus, sich ihm zu stellen und ihm seine Frage zu beantworten: »Warum klammerst du dich so sehr an ein kurzes Leben voller Leiden? Welchen Sinn hat dein Kampf?« Der Mensch, der darauf keine Antwort hatte, schickte sich dann darein. Während der andere, der für sein Leben einen Sinn suchte, sein eigenes Schicksal herausforderte, weil er fand, daß Gott ungerecht gewesen war. Das war der Augenblick, in dem ein anderes Feuer vom Himmel herabkam – nicht jenes, das tötet, sondern jenes, das die alten Mauern einreißt und jedem Menschen seine wahren Möglichkeiten gibt. Die Feiglinge lassen niemals zu, daß ihr Herz von diesem Feuer entflammt wird. Sie wollen nur, daß alles wieder so wird wie vorher, damit sie so leben und denken können, wie sie es gewohnt waren. Die Tapferen jedoch werfen alles, was alt war, ins Feuer und geben, wenn auch unter Schmerzen, alles auf, sogar Gott, und schreiten voran.
»Die Tapferen sind immer starrsinnig.« Vom Himmel lächelte der Herr zufrieden – weil es genau dies war, was Er wollte, nämlich daß jeder die Verantwortung für sein Leben in die eigenen Hände nahm. Schließlich war dies ja die größte Gabe, die er Seinen Kindern gegeben hatte: Die Fähigkeit, selbst zu wählen und zu bestimmen.
Nur Männer und Frauen mit der heiligen Flamme im Herzen hatten den Mut, sich Ihm zu stellen. Und nur sie kannten den Weg, der zurück zu Seiner Liebe führte, weil sie am Ende begriffen hatten, daß das Unglück keine Strafe, sondern eine Herausforderung war.
Elia sah sich einen jeden seiner Schritte noch einmal an: Als er das Tischlerhandwerk aufgab, hatte er seine Mission widerspruchslos auf sich genommen. Auch wenn sie echt war – und er fand, daß sie es war –, hatte er indes nie die Gelegenheit gehabt, zu sehen, was auf den Wegen geschah, die er sich zu gehen geweigert hatte. Weil er Angst hatte, seinen Glauben, seinen Eifer, seinen Willen zu verlieren. Er hielt es für riskant, den Weg der gewöhnlichen Menschen zu gehen – weil er sich daran gewöhnen und ihm letztlich das gefallen könnte, was er sah. Er begriff nicht, daß er ein Mensch wie jeder andere war, obwohl er die Engel hörte und hin und wieder von Gott Befehle erhielt. Er war so überzeugt davon zu wissen, was er wollte, daß er sich genauso verhalten hatte wie jene, die nie in ihrem Leben eine wichtige Entscheidung getroffen hatten.
Er war vor dem Zweifel geflohen. Vor der Niederlage. Vor den Augenblicken der Unentschlossenheit. Doch der Herr war großmütig und hatte ihn zum Abgrund des Unabwendbaren geführt, um ihm zu zeigen, daß der Mensch sein Schicksal erwählen und nicht einfach annehmen muß.
Vor vielen Jahren, in einer Nacht wie dieser, hatte Jakob Gott nicht gehen lassen, bevor er ihn nicht gesegnet hatte. Das war, als Gott ihn gefragt hatte: »Wie heißt du?« Das war das Problem. Einen Namen zu haben. Als Jakob ihm geantwortet hatte, hatte ihn Gott auf den Namen Israel getauft.
Jeder hat einen Namen, der ihm als Säugling gegeben wurde, doch er muß lernen, sein Leben mit dem Wort zu taufen, das er erwählt hat, um ihm einen Sinn zu geben.
»Ich bin Akbar«, hatte sie gesagt.
Die Zerstörung der Stadt, der Verlust der geliebten Frau waren notwendig gewesen, damit Elia begriff, daß er einen Namen brauchte. In diesem Augenblick nannte er sein Leben Befreiung.