Nehmt die Chance wahr, die das Unglück euch gegeben hat.
Nicht jeder ist fähig, dies zu tun.« Damit hob Elia die Versammlung auf. Dem Jungen sagte er, er würde spät nach Hause kommen und er solle ins Bett gehen und nicht auf ihn warten.
Er ging zum Tempel, dem einzigen Ort, der der Zerstörung entgangen war und den sie nicht wiederaufbauen mußten, obwohl die Statuen der Götter von den Assyrern mitgenommen worden waren. Respektvoll berührte er den Stein, der die Stelle bezeichnete, an dem, wie die Tradition besagte, der Gründer der Stadt seinen Stab in den Boden gesteckt hatte und ihn nicht wieder herausziehen konnte.
Er dachte, daß Isebel jetzt solche Tempel in Israel errichtete und sich darin ein Teil seines Volkes in den Staub warf, um Baal und seine Götter anzubeten. Erneut berührte ihn eine düstere Vorahnung. Der Krieg zwischen dem Gott Israels und den Göttern der Phönizier würde lange dauern, länger als er sich vorstellen konnte. Er sah wie in einer Vision Sterne die Sonnenbahn kreuzen und Zerstörung und Tod über die beiden Länder bringen. Menschen, die in fremden Zungen sprachen, ritten auf stählernen Tieren und duellierten inmitten der Wolken.
»Nicht das ist es, was du jetzt sehen sollst, denn die Zeit dafür ist noch nicht gekommen«, hörte er seinen Engel sagen. »Sieh aus dem Fenster.« Elia tat, wie ihm geheißen. Draußen beschien der Vollmond die Häuser und die Straßen Akbars und, obwohl es schon spät war, konnte er die Gespräche und das Lachen seiner Bewohner hören. Trotz der Rückkehr der Assyrer hatte dieses Volk noch Lebenswillen und war bereit, eine neue Etappe in seinem Leben anzugehen.
Da sah er eine Gestalt und wußte, daß es die Frau war, die er so sehr geliebt hatte und die jetzt zurückkam und stolz durch ihre Stadt wandelte. Er lächelte und spürte, daß sie ihn am Gesicht berührte.
»Ich bin stolz«, schien sie zu sagen. »Akbar ist wirklich immer noch schön.« Er spürte einen Kloß in seinem Hals, doch er erinnerte sich an den Jungen, der nie eine Träne um seine Mutter vergossen hatte, und bezwang sich, indem er an die schönsten Momente ihrer gemeinsamen Geschichte zurückdachte – angefangen bei ihrer ersten Begegnung vor den Toren der Stadt bis hin zu dem Augenblick, in dem sie das Wort >Liebe< auf ein Tontäfelchen geschrieben hatte. Er sah wieder ihr Kleid, ihr Haar, die feinen Linien ihrer Nase.
»Du hast zu mir gesagt, du seist Akbar. Also habe ich mich um dich gekümmert, habe deine Wunden geheilt und gebe dich jetzt dem Leben zurück. Mögest du mit deinen neuen Gefährten glücklich sein.
Ich möchte dir noch etwas sagen: Auch ich war Akbar – nur wußte ich es nicht.« Er wußte, daß sie lächelte.
»Der Wüstenwind hat vor langer Zeit schon die Spuren unserer Schritte im Sand verweht. Doch in jeder Sekunde meines Lebens erinnere ich mich an das, was geschehen ist, und du gehst weiterhin durch meine Träume und meine Wirklichkeit.
Ich danke dir dafür, daß du meinen Weg gekreuzt hast.« Er schlief im Tempel und fühlte, wie die Frau sein Haar liebkoste.
Der Anführer der Kaufleute sah eine Gruppe zerlumpter Menschen mitten auf der Straße. Er hielt sie für Straßenräuber und bat alle Mitglieder der Karawane, zu ihren Waffen zu greifen.
»Wer seid ihr?« fragte er.
»Wir sind das Volk von Akbar«, antwortete ein bärtiger Mann mit leuchtenden Augen. Der Anführer der Karawane bemerkte, daß er mit ausländischem Akzent sprach.
»Akbar ist zerstört worden. Wir sind von der Regierung von Tyrus beauftragt, seinen Brunnen zu finden, damit die Karawanen durch dieses Tal ziehen können. Die Verbindungswege mit dem Rest des Landes können nicht für immer unterbrochen bleiben.« »Akbar gibt es noch«, fuhr der Mann fort. »Wo sind die Assyrer?« »Die ganze Welt weiß, wo sie sind«, lachte der Anführer der Karawane. »Sie düngen den Boden unseres Landes. Und ernähren seit langem unsere Vögel und die wilden Tiere.« »Sie waren immerhin ein mächtiges Heer.« »Ein Heer hat keine Macht, wenn man weiß, wann es angreifen wird. Akbar hatte uns gewarnt, und so konnten Tyrus und Sidon am anderen Ende des Tales einen Hinterhalt legen. Alle, die nicht in der Schlacht umkamen, wurden von unseren Seefahrern in die Sklaverei verkauft.« Die zerlumpten Menschen riefen hurra, fielen einander um den Hals und lachten und weinten abwechselnd.
»Wer seid ihr alle?« fragte der Kaufmann abermals. »Und wer seid Ihr?« fragte er, indem er auf den Anführer wies.
»Wir sind die jungen Krieger von Akbar«, war die Antwort.
Die dritte Ernte begann, und Elia war der Stadthauptmann von Akbar. Anfangs hatte es großen Widerstand gegeben – der alte Stadthauptmann wollte zurückkehren und seinen Platz wieder einnehmen, weil dies die Tradition so gebot. Die Bewohner der Stadt weigerten sich jedoch, ihn zu empfangen, und drohten tagelang, das Wasser des Brunnens zu vergiften. Die phönizischen Behörden gaben schließlich ihren Forderungen nach – schließlich war Akbar bis auf das Wasser, das es den Reisenden lieferte, relativ unbedeutend, und die Macht in Israel lag in den Händen einer Prinzessin aus Tyrus. Daß sie den Posten des Stadthauptmanns mit einem Israeliten besetzten, gab den Regierenden Phöniziens Gelegenheit, ihre Handelsallianz in festere Bahnen zu lenken.
Die Kaufleute, die ihre Reisetätigkeit wieder aufgenommen hatten, verbreiteten die Nachricht in der gesamten Region. Eine Minderheit in Israel betrachtete Elia immer noch als einen Erzverräter, doch die Mehrheit vertraute darauf, daß Isebel diesen Widerstand zu gegebener Zeit brechen und Friede wieder in die Region einkehren würde. Die Prinzessin war zufrieden, weil einer ihrer Erzfeinde zu einem ihrer besten Verbündeten geworden war.
Gerüchte über eine neuerliche assyrische Invasion gingen um, und die Mauern von Akbar wurden wieder aufgebaut. Ein neues Verteidigungssystem wurde entwickelt, das zwischen Akbar und Tyrus verstreute Wachposten und Garnisonen vorsah. So konnte im Falle der Belagerung einer der Städte die andere ihr mit einem Teil der Truppen auf dem Landweg zu Hilfe eilen und gleichzeitig mit dem anderen Teil den Lebensmittelnachschub vom Meer her sichern.
Die Region blühte zusehends auf. Der neue israelitische Stadthauptmann hatte eine auf der neuen Schrift basierende strenge Steuer- und Warenkontrolle entwickelt, die nun den Alten von Akbar oblag. Die Frauen widmeten sich abwechselnd der Landarbeit und der Weberei. In der Zeit, als Akbar von der restlichen Welt abgeschnitten gewesen war, hatten sie sich notgedrungen neue Webarten und -muster einfallen lassen müssen, um die spärlichen Lumpen und Stoffreste möglichst gut zu nutzen. Die ersten Kaufleute, die in die Stadt kamen, waren von den Mustern so begeistert, daß sie große Bestellungen aufgaben. Die Kinder beherrschten inzwischen alle die Byblos-Schrift, die ihnen in Zukunft sicher oft nützlich sein würde.
Man stand kurz vor der Ernte, und Elia wanderte über die Felder und dankte dem Herrn für die unzähligen Segnungen, die er in den vergangenen Jahren erhalten hatte. Er sah die Leute mit ihren übervollen Getreidekörben, die Kinder, die fröhlich um sie herum spielten. Er winkte ihnen zu, und sie winkten zurück.
Lächelnd kam er bei dem Stein an, bei dem er vor Jahren das Tontäfelchen mit dem Wort Liebe erhalten hatte und wo er nun täglich den Sonnenuntergang betrachtete und sich der Momente erinnerte, die er mit der Frau erlebt hatte.
»Nach einer langen Zeit kam das Wort des Herrn zu Elia, im dritten Jahr: Geh hin und zeige dich Ahab, denn ich will regnen lassen auf die Erde.« Auf dem Stein, auf dem er saß, sah Elia, wie die Welt um ihn herum wankte. Der Himmel wurde einen Augenblick lang schwarz, doch dann schien die Sonne wieder.
Er sah das Licht. Ein Engel des Herrn stand vor ihm.
»Was ist geschehen?« fragte Elia erschrocken. »Hat Gott Israel vergeben?« »Nein«, antwortete der Engel. »Er will, daß du Sein Volk befreist. Dein Kampf gegen Ihn ist beendet, und in diesem Augenblick segnet Er dich. Er gibt dir die Erlaubnis, Seine Werke auf Erden fortzusetzen.« Elia war bestürzt.