»Warum gerade jetzt, wo mein Herz wieder Frieden gefunden hat?« »Erinnere dich an deine Lektion«, sagte der Engel. »Und erinnere dich an die Worte, die der Herr zu Mose sprach: Und gedenke all des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat, auf daß er dich demütige und versuche, daß kund würde, was in deinem Herzen wäre.
So hüte dich nun, daß du des Herrn, deines Gottes, nicht vergessest. Daß wenn du nun gegessen hast und satt bist und schöne Häuser erbaut hast und darin wohnst und deine Rinder und Schafe und Silber und Gold und alles, was du hast, sich mehrt, daß dann dein Herz sich nicht überhebe und du vergessest des Herrn, deines Gottes.« Elia wandte sich an den Engel. »Und Akbar?« fragte er.
»Es kann ohne dich leben, weil du einen Erben hinterlassen hast. Es wird lange überleben.« Der Engel des Herrn verschwand.
Elia und der Junge gelangten zum Fuß des Fünften Berges.
Buschwerk war zwischen den Steinen der Altäre gewachsen.
Seit dem Tode des Priesters war niemand mehr hiergewesen.
»Laß uns hinaufsteigen«, sagte er.
»Das ist verboten.« »Ja, es ist verboten. Doch das heißt nicht, daß es gefährlich ist.« Und Elia nahm den Jungen an der Hand, und sie begannen den Aufstieg. Hin und wieder hielten sie inne und blickten hinunter ins Tal. Die Dürre hatte Spuren in der ganzen Landschaft hinterlassen, und mit Ausnahme der bebauten Felder rings um Akbar wirkte alles so rauh und wüst wie im Land Ägypten.
»Meine Freunde sagen, daß die Assyrer zurückkommen«, sagte der Junge.
»Möglicherweise schon, doch es hat sich trotzdem gelohnt, denn es war Gottes Art, uns etwas zu lehren.« »Ich weiß nicht, ob Er sich so sehr um uns kümmert«, sagte der Junge. »Es hätte nicht so hart sein müssen.« »Er wird es auf andere Weise versucht haben, bis Er bemerkte, daß wir Ihn nicht hörten. Wir waren zu sehr an unser Leben gewöhnt und lasen Seine Worte nicht mehr.« »Wo stehen sie geschrieben?« »In der Welt ringsum. Man braucht nur auf das zu achten, was in unserem Leben geschieht, um in jedem Augenblick eines Tages herauszubekommen, wo Er Seine Worte und Seinen Willen verbirgt. Versuch zu erfüllen, worum Er dich bittet: Dies ist der einzige Grund, weshalb du auf dieser Welt bist.« »Wenn ich es herausbekomme, werde ich es auf Tontafeln schreiben.« »Tu das. Doch schreibe sie vor allem in dein Herz. Dort können sie weder verbrannt noch zerstört werden, und du kannst sie überallhin mitnehmen.« Sie stiegen weiter hinauf. Die Wolken war nun sehr nah.
»Ich möchte dort nicht hineingehen«, sagte der Junge, indem er auf sie zeigte.
»Sie werden dir nichts tun. Es sind nur Wolken. Komm mit mir.« Er nahm ihn wieder bei der Hand, und sie stiegen hinauf.
Allmählich gelangten sie in den Nebel. Der Junge klammerte sich an ihn, und obwohl Elia hin und wieder versuchte, mit ihm zu reden, sagte er kein Wort. Sie wanderten auf dem nackten Fels des Gipfels.
»Laß uns umkehren«, bat der Junge.
Elia blieb stehen. Dieser Junge hatte für sein kurzes Leben schon viele Schwierigkeiten und genug Angst erlebt. Kurz darauf traten sie aus dem Nebel und sahen wieder hinunter ins Tal.
»Suche irgendwann in der Bibliothek, was ich für dich aufgeschrieben habe. Es heißt Das Handbuch des Kriegers des Lichts.« »Bin ich ein Krieger des Lichts?« entgegnete der Junge.
»Kennst du meinen Namen?« fragte Elia.
»Befreiung.« »Setz dich hier neben mich«, sagte Elia, indem er auf einen Felsen wies. »Ich darf meinen Namen nicht vergessen. Ich muß meine Aufgabe weiterführen, auch wenn ich in diesem Augenblick nichts lieber möchte, als nur an deiner Seite zu sein. Deshalb wurde Akbar wieder aufgebaut: um uns zu lehren, daß man voranschreiten muß, auch wenn es noch so schwer erscheint.« »Gehst du fort?« »Woher weißt du das?« fragte er überrascht.
»Ich habe es gestern abend auf ein Tontäfelchen geschrieben.
Irgend etwas, vielleicht meine Mutter oder ein Engel, sagte es mir. Doch ich fühlte es schon in meinem Herzen.« Elia strich dem Jungen über den Kopf.
»Du hast Gottes Willen lesen können«, sagte er zufrieden.
»Daher brauche ich dir nichts weiter zu erklären.« »Was ich gelesen habe, war die Traurigkeit in deinen Augen.
Meine Freunde haben es auch bemerkt.« »Diese Traurigkeit, die ihr in meinen Augen gelesen habt, ist ein Teil meiner Geschichte. Doch nur ein kleiner Teil, der nur ein paar Tage dauern wird. Morgen, wenn ich nach Jerusalem aufbreche, wird sie schon weniger stark sein, und ganz allmählich wird sie verschwinden. Trauer ist nie für ewig, zumal wenn wir auf das zugehen, was wir immer gewünscht haben.« »Muß man immer aufbrechen?« »Man muß immer wissen, wann eine Etappe im Leben vorüber ist. Wenn du länger als notwendig verharrst, verlierst du deine Fröhlichkeit und das Gefühl für alles andere. Und dann riskierst du, daß Gott dich schüttelt.« »Der Herr ist hart.« »Nur mit den Auserwählten.« Elia blickte auf Akbar hinunter. Ja, Gott konnte oft sehr hart sein, doch nie härter, als der Betroffene ertragen konnte: Der Junge wußte nicht, daß da, wo sie jetzt saßen, ihn einst ein Engel des Herrn besucht und gelehrt hatte, wie er den Jungen von den Toten zurückholen konnte.
»Wirst du mich vermissen?« fragte er.
»Du hast gesagt, daß die Traurigkeit vergeht, sofern wir voranschreiten«, antwortete der Junge. »Noch ist viel zu tun, um Akbar so schön zu machen, wie meine Mutter es verdient.
Sie geht durch seine Straßen.« »Komm an diesen Ort zurück, wenn du mich brauchst. Und blicke nach Jerusalem hinüber: Ich werde dort sein und versuchen, meinem Namen, Befreiung, einen Sinn zu geben.
Unsere Herzen sind auf immer verbunden.« »Hast du mich deshalb auf den Gipfel des Fünften Berges gebracht? Damit ich Israel sehen kann?« »Damit du das Tal sehen kannst, die Stadt, die anderen Berge, die Wolken. Der Herr pflegt Seine Propheten auf die Berge steigen zu lassen, um mit ihnen zu reden. Ich habe mich immer gefragt, warum, und jetzt weiß ich es. Von hoch oben sehen wir alles ganz klein.
Unsere ruhmreichen Momente und unsere Trauer werden weniger wichtig. Was wir errungen oder verloren haben, bleibt unten im Tal. Vom Gipfel des Berges siehst du, wie groß die Welt ist und wie weit ihre Horizonte.« Der Junge blickte um sich. Vom Gipfel des Fünften Berges wehte der Geruch des Meeres, der die Strande von Tyrus bespülte. Und er hörte den Wüstenwind, der von Ägypten her wehte.
»Ich werde eines Tages Akbar regieren«, sagte er zu Elia. »Ich weiß, was groß ist, aber ich kenne auch jede Ecke der Stadt.
Ich weiß, was geändert werden muß.« »Dann ändere es. Laß den Stillstand nicht zu.« »Hätte Gott nicht eine andere Art wählen können, uns dies alles zu zeigen? Es gab einen Augenblick, da dachte ich, Er sei böse.« Elia schwieg. Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er vor vielen Jahren mit einem levitischen Propheten geführt hatte, als beide darauf warteten, daß die Soldaten von Isebel kamen, um sie zu töten.
»Kann Gott böse sein?« fragte der Junge abermals.
»Gott ist allmächtig«, antwortete Elia. »Er kann alles, und nichts ist ihm verboten, denn wäre es anders, gäbe es jemanden, der mächtiger und größer wäre als Er, um ihn gewisse Dinge nicht tun zu lassen. In diesem Fall würde ich diesen mächtigeren Jemand anbeten und verehren.« Er wartete eine geraume Weile, damit der Junge Zeit hatte, den Sinn seiner Worte zu verstehen. Dann fuhr er fort: »Dennoch hat Er es wegen Seiner unendlichen Macht für richtig befunden, nur Gutes zu tun. Gehen wir bis an das Ende unserer Geschichte, dann sehen wir, daß das Gute häufig als Böses verkleidet ist und trotzdem das Gute und Teil des Planes bleibt, den Er für die Menschheit geschaffen hat.« Elia nahm den Jungen an der Hand, und sie kehrten schweigend zurück.
In jener Nacht schlief der Junge in seinen Armen. Kaum daß der Tag anbrach, löste sich Elia vorsichtig von ihm, um ihn nicht zu wecken.