Umsonst versuchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihm immerhin noch ein paar Stunden zu leben blieben. Er entdeckte, daß der Mensch kaum je die Macht hat, eine freie Entscheidung zu fällen.
Elia wachte am nächsten Tag auf und blickte wieder auf den Bach Krith.
Morgen oder in einem Jahr würde dieser nur ein Weg aus feinem Sand und runden Steinen sein. Die alten Bewohner würden diesen Ort weiterhin Krith nennen und vielleicht jemandem, der nach dem Weg fragte, sagen: »Das liegt bei dem Bach, der hier vorbeifließt.« Die Reisenden würden sich dort hinbegeben und nur die runden Steine und den feinen Sand sehen und sich sagen: »Hier war einmal Wasser.« Doch das Wichtigste an einem Bach, sein Wasser, wäre nicht mehr da, um den Durst zu stillen.
Wie die Bäche und die Pflanzen brauchten auch die Seelen eine Art von Regen: die Hoffnung, den Glauben, einen Grund, zu leben. Wenn es dies nicht mehr gab, dann starb alles in dieser Seele, obwohl der Körper weiterhin lebte. Und die Leute konnten sagen: »Hier in diesem Körper wohnte einmal ein Mensch.« Es war jetzt nicht der Zeitpunkt, darüber nachzusinnen. Er erinnerte sich abermals an das Gespräch mit dem Leviten, kurz bevor sie gemeinsam den Stall verlassen hatten. Wozu so viele Tode sterben, wenn ein einziger genügte? Er brauchte nur auf Isebels Soldaten zu warten. Kommen würden sie zweifellos, denn es gab nicht viele Orte, wohin man sich aus Gilead flüchten konnte. Die Übeltäter gingen in die Wüste – und wurden dann dort wenige Tage später tot aufgefunden. Oder sie gingen zum Bach Krith, wo sie am Ende immer gefangen wurden.
Also würden die Soldaten bald kommen. Und er würde froh sein, sie zu sehen.
Er trank ein wenig vom kristallklaren Wasser, das neben ihm dahinfloß. Er wusch sein Gesicht und suchte einen Schatten, um dort seine Verfolger zu erwarten. Ein Mensch kann nicht gegen sein Schicksal ankämpfen – und er, Elia, hatte bereits gekämpft und verloren.
Obwohl die Priester ihn einen Propheten nannten, hatte er beschlossen, als Tischler sein Leben zu bestreiten. Doch der Herr hatte ihn wieder auf seinen Weg zurückgeführt.
Er war nicht der erste, der versuchte, sich der Bestimmung zu entziehen, die Gott für jeden Menschen auf Erden bereithielt.
Einem Freund von ihm, der eine großartige Stimme hatte, verboten die Eltern, Sänger zu werden, weil dieser Beruf seine Familie entehrt hätte. Eine seiner Jugendfreundinnen war eine begnadete Tänzerin; doch ihre Familie hatte ihr das Tanzen untersagt, aus Angst, der König würde sie zu sich in den Palast rufen; das Leben bei Hofe galt als sündig und machte jede Hoffnung auf eine gute Heirat zunichte.
»Der Mensch wurde geboren, um sein Schicksal zu verraten.« Gott gab den Herzen nur unmögliche Aufgaben.
»Warum?« Vielleicht weil die Tradition aufrechterhalten werden mußte.
Doch das war keine gute Antwort. »Die Bewohner Libanons sind weiter als wir, weil sie die Tradition der Seefahrer fortgeführt haben. Als alle Welt nur ein und denselben Schiffstyp benutzte, hatten sie beschlossen, etwas ganz anderes zu bauen. Viele verloren auf See ihr Leben, doch die Schiffe wurden verbessert, und nun beherrschen die Phönizier weltweit den Handel. Sie haben einen hohen Preis bezahlt, um sich anzupassen, doch es hat sich gelohnt.« Vielleicht verriet der Mensch sein Schicksal, weil Gott nicht näher war. Er hatte in die Herzen Träume gelegt, die einer Zeit entstammten, in der alles möglich war, und hatte sich dann um andere Dinge gekümmert. Die Welt veränderte sich, das Leben wurde schwieriger, doch die Träume der Menschen wurden nicht entsprechend angepaßt.
Gott war fern. Wenn er die Engel schickte, damit sie mit seinen Propheten sprachen, dann nur, weil es hier noch etwas zu tun gab. Was wäre dann die Antwort?
»Vielleicht haben unsere Eltern sich geirrt und fürchteten, wir würden dieselben Fehler machen. Oder vielleicht haben sie sich auch nie geirrt und wissen nicht, wie sie uns helfen können, wenn wir ein Problem haben.« Er fühlte, daß er der Antwort ganz nahe war.
Der Bach floß neben ihm dahin, einige Raben kreisten am Himmel, Pflanzen wuchsen unbeirrbar aus dem sandigen, sonst unfruchtbaren Boden. Was hätten wohl ihre Ahnen gesagt?
»Bächlein, suche dir einen besseren Ort, um in deinem klaren Wasser die Helligkeit der Sonne widerzuspiegeln, denn die Wüste wird dich austrocknen«, würde ein Gott des Wassers gesagt haben, sofern es ihn gab. »Raben, es gibt mehr Nahrung in den Wäldern als zwischen den Felsen und dem Sand«, würde der Gott der Vögel gesagt haben. Und der der Blumen: »Pflanzen, werft euere Samen fern von hier ab, denn die Welt ist voller fruchtbarer, feuchter Erde und ihr würdet schöner wachsen.« Doch weder der Krith noch die Pflanzen oder die Raben – einer hatte sich in der Nähe niedergelassen – hatten den Mut zu tun, was die anderen Flüsse, Vögel oder Blumen für unmöglich gehalten hatten.
»Ich lerne«, sagte er zum Vogel, »auch wenn ich ein unwürdiger, unnützer Schüler bin, denn ich bin zum Sterben verurteilt.« »Du hast entdeckt, wie einfach alles ist«, schien der Rabe zu antworten. »Man muß nur Mut haben.« Elia lachte, denn er hatte einem Vogel die Worte in den Mund gelegt. Das war ein vergnügliches Spiel. Er hatte es bei der Frau gelernt, die Brot backte. Und er beschloß fortzufahren. Er würde Fragen stellen und sich so selbst eine Antwort geben können, als wäre er ein wahrer Weiser.
Der Rabe flog auf. Elia wartete weiter auf Isebels Soldaten, denn einmal sterben genügte.
Der Tag verging, ohne daß etwas geschah. Sollten sie vergessen haben, daß der größte Feind ihres Baal noch am Leben war? Warum verfolgte ihn Isebel nicht, obwohl sie doch wissen mußte, wo er sich befand?
»Weil ich es in ihren Augen gelesen habe, und sie ist eine kluge Frau«, sagte er sich. »Mein Tod würde mich zu einem Märtyrer des Herrn machen. Als Flüchtling bin ich nur ein Feigling, der selbst nicht glaubt, was er sagt.« Ja, genau das war die Strategie der Prinzessin.
Kurz vor Einbruch der Nacht ließ sich ein Rabe – derselbe? – auf dem Ast nieder, auf dem er ihn schon am Morgen gesehen hatte. In seinem Schnabel hielt er ein kleines Stück Fleisch, das er plötzlich fallen ließ.
Für Elia war es ein Wunder. Er lief zum Baum, griff sich das Stückchen und aß es. Er wußte nicht, woher es kam, und wollte es auch nicht wissen. Hauptsache, er konnte seinen Hunger ein wenig stillen.
Seine jähe Bewegung hatte den Vogel nicht verscheucht.
>Dieser Vogel weiß, daß ich hier Hungers sterben werde<, dachte Elia. >Er ernährt seine Beute, um später ein üppigeres Mahl zu haben.< Isebel gab mit Elias Flucht auch dem Glauben an Baal neue Nahrung.
Geraume Zeit beäugten der Mensch und der Vogel einander.
»Ich würde mich gern mit dir unterhalten, Rabe. Heute morgen dachte ich, daß die Seelen Nahrung brauchen. Wenn meine Seele noch nicht Hungers gestorben ist, dann nur, weil sie noch etwas zu sagen hat.« Der Rabe regte sich noch immer nicht.
»Und wenn sie etwas zu sagen hat, dann muß ich ihr stumm zuhören, weil ich sonst niemanden habe, mit dem ich sprechen kann«, fuhr Elia fort.
Elia verwandelte sich in Gedanken in den Raben.
»Was erwartet Gott von dir«, fragte er sich, als wäre er der Rabe.
»Er erwartet von mir, daß ich Prophet bin.« »Das haben die Priester gesagt. Doch vielleicht ist es überhaupt nicht das, was Gott will.« »Doch, genau das will Er. Denn ein Engel ist in der Tischlerwerkstatt erschienen und hat mich gebeten, daß ich mit Ahab rede. Die Stimmen, die ich in meiner Jugend hörte…« »…die alle Menschen in ihrer Jugend hören«, unterbrach ihn der Rabe.
»Doch nicht alle sehen einen Engel«, sagte Elia.
Darauf sagte der Rabe nichts. Nach einer Weile brach der Vogel das Schweigen – oder vielmehr Elias eigene Seele, die wegen der Sonne und der Einsamkeit der Wüste delirierte.
»Erinnerst du dich an die Frau, die Brot backte?« fragte er sich.