»Warum lässt du die Möglichkeit außer Acht, dass Adag sich im Tag irren könnte?«
»Weil er Téite zwei Kutten gab, die auf der Suche nach Ibor zerrissen und mit Blut beschmiert wurden. Du und Finnlug habt sie getragen, als ihr Pater Ibor, am Baum hängend, fandet. Zweifelsohne wird man sie in ihrer Hütte entdecken, um dies zu beweisen.«
Fidelma machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Muss ich annehmen, dass niemand daran gedacht hat, dem Mädchen zu sagen, dass man Ibor gerade erhängt aufgefunden hatte? Immerhin liebte sie ihn.«
»Ich habe das Mädchen nicht gesehen«, sagte Pater Febal schnell. »Bruder Adag hat sie gesehen.«
»Und Bruder Adag gibt zu, dass er Téite geliebt hat«, fügte Bruder Finnlug zynisch hinzu.
Der junge Mann hob trotzig den Kopf. »Ich leugne es nicht. Aber sie hat meine Liebe nicht erwidert, sie liebte Ibor, der sie abgewiesen hat.«
»Und das hat dich wütend gemacht?«, fragte Fidelma.
»Ja. Sehr wütend!«, antwortete Bruder Adag heftig.
Bruder Finnlug warf Adag einen misstrauischen Blick zu.
»Wütend genug, um sie beide zu töten?«, flüsterte er.
»Nein«, antwortete Fidelma, noch bevor Bruder Adag es abstreiten konnte. »Ibor und Téite wurden nicht im Zorn getötet, sondern mit Vorbedacht. Nicht wahr, Bruder Finnlug?«
Bruder Finnlug fuhr zu ihr herum, seine Augen waren plötzlich ausdruckslos.
»Woher soll ich das wissen, Schwester Fidelma?«
»Weil du sie beide getötet hast«, sagte Fidelma ruhig.
»Das ist Unsinn! Warum sollte ich das tun?«, rief der Mönch, nachdem er den ersten Schreck überwunden hatte.
»Weil du, als du das Kruzifix und den Kelch aus der Kirche gestohlen hast, von Pater Ibor ertappt wurdest. Du musstest ihn töten. Du erstachst ihn und brachtest die Leiche anschließend in den Wald, wo du einen Selbstmord durch Erhängen vortäuschtest. Dann wurde dir klar, dass man die Stichwunde entdecken würde, deshalb ließest du das Messer bei der Leiche liegen. Als ob jemand, der an einem Strick am Baum hängt, in der Lage wäre, ein Messer hervorzuholen und sich selbst ins Herz zu stechen. Und wie ist der arme Mann überhaupt an den Ast herangekommen, an dem er sich angeblich erhängt hat? Keiner von euch hat mir von einem Hilfsmittel berichtet, mit dem er hinaufgeklettert sein könnte. Denkt nur daran, wie mühsam das gewesen wäre. Die Leiche wurde von jemand anderem dort aufgehängt.«
Sie blickte Pater Febal an, der in Gedanken versunken war. Er schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass auch er keine Erklärung parat hatte.
Fidelma richtete den Blick wieder auf Bruder Finnlug.
»Du hast einen raffinierten Plan ausgeheckt, um alle über das wahre Geschehen zu täuschen.«
Die Spannung in der Sakristei war geradezu greifbar.
»Du bist verrückt«, murmelte Bruder Finnlug.
Fidelma lächelte. »Du warst Jäger im Dienste des Lords von Maine. Wir haben bereits darüber gesprochen, wie großzügig er zu denen war, die ihm dienten. Ihnen fehlte es an nichts, nicht einmal, wenn die Ernte schlecht war. Als ich dich fragte, aus welchem Grund du einen solch vorteilhaften Dienstherrn verlassen hast, sagtest du, es sei aufgrund deiner Überzeugung geschehen. Bleibst du dabei? Dass du das weltliche Leben zugunsten eines geistlichen aufgabst?«
Pater Febal sah Bruder Finnlug verwirrt an. Der schwieg.
»Du hast mir auch, vielleicht unabsichtlich, deine Verbitterung über die Ordnung in dieser Gemeinde verraten. Wenn du ein geistliches Leben wolltest, dann sicher nicht so eines, nicht wahr?«
Pater Febal mischte sich leise ein: »Die Wahrheit ist, dass Finnlug vom Lord von Maine wegen Diebstahls entlassen wurde. Wir haben ihn hier aufgenommen.«
»Was beweist das schon?«, fragte Finnlug heftig.
»Ich versuche gar nicht, etwas zu beweisen. Ich werde dir sagen, was du getan hast. Ursprünglich hattest du gehofft, mit dem Diebstahl davonzukommen. Das Motiv war einfach, wie du mir selbst gesagt hast: Der Verkauf der wertvollen Gegenstände hätte dich ein Leben lang reich gemacht. Das hätte deinen Groll darüber beschwichtigt, dass andere Macht und Reichtümer besitzen, du aber nicht. Wie ich schon gesagt habe, Ibor ertappte dich und du erstachst ihn und brachtest seine Leiche in den Wald. Als du zurückkehrtest, stelltest du fest, dass du sein Blut an deiner Kutte hattest.
Der Diebstahl wurde nun entdeckt, und Pater Febal bat dich um Hilfe. Das Blut an deiner Kutte fiel keinem auf. Vielleicht hast du dir einen Umhang übergeworfen, um es zu verbergen. Du führtest Pater Febal zu Pater Ibors Leiche. Alles lief genau so ab, wie du es geplant hattest. Pater Ibor wurde des Diebstahls beschuldigt. Pater Febal musste glauben, dass sich Pater Ibor in einem Anflug von Reue selbst getötet hatte. Sogar die Herkunft der Stichwunde wurde erklärt. Die Tatsache, dass nur wenig Blut auf der Erde war, erweckte keinen Verdacht. Du konntest inzwischen vorgeben, dass die Blutflecke auf deiner Kutte von der Suche nach Ibor stammten. Vielleicht hast du, Finnlug, den Gedanken ins Spiel gebracht, dass das Kruzifix und der Kelch nach Ibors Tod von einem zufällig vorbeikommenden Dieb gestohlen wurden.
Am nächsten Tag kam Téite ahnungslos hierher, um die Kleider zum Waschen und Ausbessern abzuholen. Adag hatte sie wie immer zusammengesucht, unter ihnen auch deine Kutte, die mit den Blutflecken. Du hattest nicht vorgehabt, dass das Mädchen sie erhalten sollte. Du eiltest zu ihrer Hütte, um sicherzustellen, dass sie keinen Verdacht geschöpft hatte. Vielleicht fasstest du deinen Plan schon, bevor du zu ihr gingst? Du brachtest sie um und legtest den Kelch neben ihre Leiche. Das Kruzifix war schließlich wertvoll genug, dir Reichtum und Besitz zu verschaffen. Es war bekannt, dass Ibor und Téite irgendeine Art von Beziehung hatten. Jeder würde das Schlimmste vermuten. Du musstest nur noch zurückkehren und abwarten, bis du die Gemeinde verlassen könntest, ohne Verdacht zu erwecken.«
Bruder Finnlugs Gesicht war kreidebleich.
»Du kannst das nicht beweisen«, murmelte er ohne Überzeugung.
»Muss ich es beweisen? Sollen wir das Kruzifix suchen gehen? Wirst du uns sagen, wo es ist … oder soll ich es sagen?« Sie stand entschlossen auf, als wollte sie den Raum verlassen.
Bruder Finnlug stöhnte und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Schon gut, schon gut. Es ist wahr. Du weißt, dass es in meiner Zelle versteckt ist. Es war eine Gelegenheit, zu entkommen … etwas Wohlstand, ein gutes Leben zu haben.«
Pater Febal ging langsam mit Fidelma zum Tor der zur Gemeinde gehörenden Gebäudegruppe.
»Woher wusstest du, wo Bruder Finnlug das Kruzifix versteckt hatte?«, fragte er.
Schwester Fidelma warf einen raschen Blick auf den ernst aussehenden Priester, und ein schnelles, verschmitztes Lächeln huschte über ihre Züge.
»Ich wusste es nicht«, gestand sie.
Pater Febal runzelte die Stirn.
»Wie wusstest du dann …? Wie wusstest du, dass Finnlug der Schuldige war und was er getan hatte?«, fragte er erstaunt.
»Mein Instinkt hat es mir gesagt. Natürlich war es eine Schlussfolgerung auf Grundlage der Tatsachen, die mir bekannt waren. Aber ich glaube, wenn Bruder Finnlug von mir verlangt hätte, meine Anschuldigung zu beweisen, wäre ich bei einer Gerichtsverhandlung unter Einhaltung der Vorschriften nicht dazu in der Lage gewesen. Es ist manchmal wichtiger, dass die schuldige Person denkt, du wüsstest etwas, und glaubt, dass du es beweisen kannst, als dass du es tatsächlich beweisen kannst. Ohne Bruder Finnlugs Geständnis hätte ich diese Angelegenheit am Ende womöglich gar nicht aufklären können.«
Pater Febal starrte sie noch immer entgeistert an, als sie zum Abschied die Hand hob und über die Straße in Richtung Cashel davonschritt.
HEILIGES BLUT
»Schwester Fidelma! Wie kommst du denn hierher?«
Äbtissin Ballgel stand am Tor der Abtei von Nivelles und starrte ungläubig auf die staubige Gestalt der jungen Nonne.