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»Ich bin auf dem Rückweg nach Kildare, Ballgel«, antwortete die große, schlanke Frau. Ein breites Begrüßungslächeln lag auf dem von der Reise gezeichneten Gesicht. »Ich war eine Weile in Rom, und wo sonst sollte ich mich hinwenden, wenn ich auf dem Weg zur Küste durch das Land der Franken komme?«

Zur Überraschung der beiden älteren Nonnen, die die Äbtissin offenbar begleiteten, fielen Ballgel und Schwester Fidelma einander mit unverhohlener Freude in die Arme.

»Es ist lange her«, meinte die Äbtissin.

»Wahrhaftig, lange her. Ich habe dich nicht gesehen, seit du aus Kildare weggegangen bist und die Küsten von Éireann hinter dir gelassen hast, um hierherzukommen. Und jetzt sagt man mir, du seist die Äbtissin.«

»Ja, die Gemeinschaft hat mir bei der Wahl diese Ehre zukommen lassen.«

Schwester Fidelma bemerkte, dass die beiden Nonnen, die bei der Äbtissin standen, ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. Überrascht nahm sie ihre bitterernsten, ängstlichen Gesichter wahr. Äbtissin Ballgel sah, dass Fidelmas Blick zu ihren Begleiterinnen gehuscht war. Die drei Nonnen hatten gerade die Abtei verlassen wollen, als Fidelma ihnen begegnet war.

»Du hast leider einen sehr schlechten Augenblick für deine Ankunft gewählt, Fidelma. Wir sind unterwegs zum Wald von Seneffe, ein kleines Stück Wegs von hier. Du bist nicht dort vorbeigekommen, oder?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Nein, ich bin von Namur aus über die Berge gekommen. Bis dort bin ich mit dem Schiff auf dem Fluss gereist.«

»Ah!« Die Äbtissin wirkte ernst, rang sich aber ein Lächeln ab. »Geh hinein und sei unser Gast, Fidelma. Ich hoffe, dass ich vor dem Abend wieder zurück bin. Dann können wir uns unterhalten und gegenseitig unsere Neuigkeiten erzählen.«

Fidelma hob fragend die Brauen. Die Stimme und das Gebaren der Äbtissin verrieten ihr, dass ihr etwas auf der Seele lag.

»Was ist los?«, fragte sie. »Dich quält doch etwas.«

Ballgel verzog das Gesicht.

»Du hattest schon immer ein scharfes Auge, Fidelma. Mich hat gerade die Nachricht erreicht, dass eine unserer Schwestern im Wald von Seneffe ermordet aufgefunden wurde, und ein anderes Mitglied unserer Gemeinschaft wird vermisst. Wir eilen gerade zum Fundort, um festzustellen, ob das alles stimmt. Geh also und ruhe dich von den Strapazen der Reise aus. Ich geselle mich später zu dir.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Mutter Äbtissin«, sagte sie leise, »es ist wirklich lange her, und vielleicht hast du es vergessen. Ich habe acht Jahre lang bei Brehon Morann Recht studiert. Ich verfüge über eine gewisse Begabung, Rätsel zu lösen und Geheimnisse aufzuklären. Lass mich mitkommen. Ich will dir alles Talent, was ich besitzen mag, zur Verfügung stellen, um dieser Sache auf den Grund zu gehen.«

Fidelma und Ballgel waren zusammen Novizinnen im Kloster von Kildare gewesen.

»Ich erinnere mich sehr wohl an deine Begabung, Fidelma. Ich habe deinen Namen in der Zwischenzeit häufig gehört, denn oft beherbergen wir hier Reisende aus Éireann. Du kannst gern mitkommen«, sagte Ballgel erleichtert.

»Und du kannst mir unterwegs erläutern, was vorgefallen ist«, meinte Fidelma und stellte ihre Reisetasche innerhalb der Klostermauern ab, ehe sie sich den drei Frauen anschloss.

Sie machten sich auf den Weg. Fidelma und Ballgel gingen Seite an Seite, und die beiden anderen Nonnen folgten ihnen.

»Wer ist denn ermordet worden?«, begann Fidelma.

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass heute Morgen Schwester Cessair und Schwester Della zur Abtei von Fosse aufgebrochen sind. Heute ist der siebzehnte März. Deswegen trugen sie die Phiole mit dem Heiligen Blut der Seligen Gertrude zu den Brüdern von Fosse, damit sie dort wie jedes Jahr gesegnet würde und …«

Fidelma legte leicht die Hand auf den Arm ihrer Freundin.

»Nicht so schnell, Ballgel. Vergiss nicht, ich bin fremd hier.«

»Dann will ich ganz am Anfang beginnen«, sagte die Äbtissin. »Vor fünfundzwanzig Jahren starb der Herrscher dieses Landes, Pippin der Ältere von Landen. Seine Witwe Itta entschied sich, ihr Leben in einem Orden zu beschließen, und kam mit ihrer Tochter Gertrude hierher nach Nivelles. Sie ließen unsere Abtei errichten. Als Itta starb, wurde die Selige Gertrude unsere Äbtissin.

Etwa zu dieser Zeit kamen zwei Brüder aus Éireann, Foillan und Ultan, hier auf ihren Wanderungen vorüber und predigten das Wort Gottes. Sie beschlossen, sich in der Nähe anzusiedeln. Gertrude schenkte ihnen einige Meilen von hier entfernt Ländereien in Fosse, jenseits des Waldes von Seneffe. Foillan und Ultan versammelten zahlreiche irische Ordensleute um sich, und manche kamen auch in unsere Abtei. Es heißt, der heilige Foillan hätte der heiligen Gertrude prophezeit, weil sie die irischen Missionare so sehr liebte und förderte, würde sie an dem Tage sterben, an dem auch der heilige Patrick verschieden ist. Und es geschah, wie er es vorhergesagt hatte, auf den Tag genau vor sieben Jahren.«

Äbtissin Ballgel schwieg eine Weile, bis Fidelma sie fragte: »Also hatte sich Foillan als Prophet erwiesen?«

»Er lebte nicht lange genug, um seine Vorhersage erfüllt zu sehen. Er starb nämlich vier Jahre vor seiner geliebten Gertrude. Er und drei Gefährten waren unterwegs von der Abtei Fosse durch den Wald, dem wir uns gerade nähern – den Wald von Seneffe –, als sie von Räubern überfallen und ermordet wurden. Ihre Leichen waren so gut im Wald versteckt, dass man sie erst nach drei Monaten zufällig entdeckte. Foillans Bruder Ultan wurde Abt.

Als dann die heilige Gertrude gestorben war, kamen die beiden Abteien überein, dass man, da sie ja die Wohltäterin beider Häuser war, eine Phiole mit ihrem Blut, das man ihr nach ihrem Tode abgenommen hatte, hinter dem Hochaltar unserer Abtei aufbewahren würde. Doch jedes Jahr sollte diese Phiole an ihrem Todestag zur Abtei von Fosse gebracht und dort in einem Gottesdienst vom Abt gesegnet werden. Dies war die Aufgabe, die Schwester Cessair und Schwester Della heute Morgen erfüllen sollten.«

»Wie hast du davon erfahren, dass eine Schwester im Wald ermordet wurde?«

»Als der Mittag gekommen war, der Zeitpunkt des Gottesdienstes in Fosse, und dort die Schwestern aus unserer Gemeinschaft mit dem Heiligen Blut noch nicht eingetroffen waren, machte sich Bruder Sinsear auf, um festzustellen, was sie aufgehalten hatte. Er fand die Leiche einer der Schwestern am Wegesrand. Er eilte sofort her, um uns davon zu benachrichtigen, und kehrte dann unverzüglich um und alarmierte die Gemeinschaft in Fosse.«

»Aber weißt du, welche der beiden Schwestern getötet wurde?«

Die Äbtissin schüttelte den Kopf.

»Bruder Sinsear war zu aufgeregt, um uns das zu sagen. Er überbrachte nur der Pförtnerin die Nachricht und machte sich sogleich wieder auf den Rückweg.«

Inzwischen waren sie in den hochaufragenden, finsteren Wald von Seneffe eingetreten. Der Weg führte meist geradeaus, schlängelte sich jedoch manchmal um Felsbrocken herum und an Bächen entlang, bis man diese über eine Furt durchqueren konnte. Die dichten Bäume sperrten die Nachmittagssonne beinahe aus, und die Luft ringsum war kühl. Fidelma dachte, dass dieser Weg einen idealen Hinterhalt für Räuber bot. Es verwunderte sie nicht, dass hier schon Menschen zu Tode gekommen waren.

Obwohl die irischen Ordensleute unbewaffnet in die Welt zogen, um ihren Glauben zu predigen, hatten doch die meisten von ihnen die Kunst des troid-sciathagid, des Verteidigungskampfes, gelernt. Dies war eine Methode der Selbstverteidigung ohne Waffen. Selten fielen derart ausgebildete Ordensleute herumstreunenden Banden von Dieben und Räubern zum Opfer. Die Namen der beiden Schwestern deuteten darauf hin, dass sie Irinnen waren und also zumindest Grundkenntnisse in dieser Kunst besitzen mussten. Es war nämlich üblich, dieses Wissen zu erwerben, ehe man das Heilige Wort von den Küsten der Insel Éireann in fremde Länder trug.