Die kleine Gruppe schritt schweigend und rasch den Pfad entlang. Die Nonnen blickten sich des Öfteren ängstlich um, ob irgendwo eine Gefahr lauerte.
»Ist dies nicht ein gefährlicher Weg für junge Schwestern?«, erkundigte sich Fidelma nach einer Weile.
»Nicht gefährlicher als andere«, erwiderte ihre Freundin. »Lass die Geschichte von Foillans Tod deine Meinung nicht beeinflussen. Das ist zehn Jahr her, und die Räuber wurden inzwischen aus diesem Landstrich vertrieben. Es hat seither keine weiteren Zwischenfälle mehr gegeben.«
»Bis heute«, bemerkte Fidelma finster.
»Bis heute«, seufzte Ballgel.
Wenig später erblickten sie eine Gruppe von vier oder fünf Mönchen. Sie hatten einen Karren mitgebracht, vor den ein Esel gespannt war. Sie standen um eine knorrige Eiche herum, deren Äste mit den welken Blättern so niedrig hingen, dass man beinahe hinaufreichen und die untersten Zweige packen konnte. Dadurch war es an dieser Stelle noch finsterer.
Ein großer Mann von kräftiger Gesichtsfarbe, der ein goldenes Kreuz um den Hals trug und sichtlich eine Respektsperson war, erblickte Äbtissin Ballgel und kam auf sie zugeeilt.
»Ich grüße dich, Mutter Äbtissin. Eine schlimme Sache, eine gotteslästerliche Sache.« Er sprach Latein, aber Fidelma konnte seinen fränkischen Zungenschlag ausmachen.
»Abt Heribert von Fosse«, flüsterte Ballgel ihr gerade noch außer Hörweite zu.
»Wo ist der Leichnam?« Ballgel kam gleich zur Sache, sprach ebenfalls Latein.
Abt Heribert schaute betreten drein.
»Ich möchte euch erst auf den Anblick vorbereiten«, hub er an.
»Ich habe schon Tote gesehen«, erwiderte Äbtissin Ballgel ruhig.
Er deutete auf die vom Weg abgewandte Seite des Eichenstammes.
Ballgel ging zu der Stelle, zu der seine Hand sie gewiesen hatte, dicht gefolgt von Fidelma.
Man hatte eine Frau an den Eichenstamm gebunden, sodass sie vom Weg aus nicht zu sehen war. Es wirkte beinahe wie die Parodie einer Kreuzigung. Überall war Blut. Fidelma verzog angewidert das Gesicht. Jemand hatte der Frau, die ein Ordensgewand trug, systematisch das Gesicht verstümmelt.
»Löst sie vom Baum!«, rief Äbtissin Ballgel mit scharfer Stimme. »Sofort! Lasst das arme Mädchen nicht noch länger da hängen!« Mit finsterer Miene traten zwei der Mönche vor.
»Wer ist es?«, fragte Fidelma. »Erkennst du sie?«
»O ja. Wir haben nur eine Schwester, deren Haar so golden leuchtet. Es ist die junge Schwester Cessair. Gott sei ihrer Seele gnädig.« Sie beugte das Knie.
Fidelma schürzte nachdenklich die Lippen. Sie sah zu, wie zwei Mönche die Tote vom Baum lösten und auf den Karren legen wollten.
»Wartet noch!«, rief sie. Sie wandte sich der Äbtissin zu und fragte: »Ich möchte mir den Leichnam genauer ansehen, und zwar allein.«
Überrascht schaute Ballgel sie an.
»Wozu das denn?«
»Dies sind überaus merkwürdige Umstände. Es könnte sein, dass sie … brutal behandelt wurde.«
Ballgel fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn, bis sie endlich begriff, was Fidelma meinte.
Sie befahl den Mönchen, die Leiche vor dem Karren auf die Erde zu legen, und bat dann Abt Heribert, sich mit seinen Männern in respektvollem Abstand zurückzuziehen.
Fidelma kniete sich neben die Tote. Dabei bemerkte sie, dass der Boden unter der Eiche recht feucht, ja morastig war. Der Karren und die vielen Füße der Menschen, die hier gegangen waren, hatten ihn aufgewühlt. Fidelmas Blick fiel auf zwei Fußabdrücke, die weitaus tiefer eingegraben waren als die anderen, sodass sich sogar Wasserlachen darin gebildet hatten. Sie ignorierte den Schlamm und beugte sich über den Leichnam. Der Äbtissin bedeutete sie, sie solle näher treten.
»Wenn du bitte meine Untersuchung beobachten und bezeugen würdest, Ballgel«, rief sie ihr über die Schulter hinweg zu. »Du siehst, dass das Gesicht der Schwester mit einem Messer übel zugerichtet wurde. Die Haut wurde absichtlich mit einer scharfen Klinge gezeichnet, entstellt, als hätte man es darauf abgesehen, das Gesicht des Mädchens zu zerstören.«
Ballgel zwang sich hinzuschauen und nickte, konnte aber ein qualvolles Stöhnen nicht unterdrücken.
Fidelma beugte sich tiefer herab. Dann hielt sie einen Augenblick inne, denn sie hatte gesehen, was sie sehen wollte. Nun wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem kleinen ledernen marsupium zu, das am Gürtel der toten Schwester hing. Es war nicht mit einem dünnen Lederriemen zugeschnürt, wie das solche Beutel sonst waren, und es war leer.
Fidelma erhob sich. Als Nächstes ging sie zu dem Baum, von dem man den Leichnam abgenommen hatte, und begann sich umzusehen. Mit einem triumphierenden Aufschrei beugte sie sich zur Erde und hob ein zerrissenes Stück Papier auf. Anstelle von Buchstaben waren darauf einige seltsame kurze Linien. Fidelma runzelte die Stirn und verstaute das Papier in ihrem eigenen marsupium.
Ihr scharfes Auge erspähte einen runden Stein auf dem Boden. Er war blutverschmiert, und Hautfetzen und Haare klebten daran.
»Was ist das?«, wollte Äbtissin Ballgel wissen.
»Das ist die Waffe, mit der Cessair getötet wurde«, erklärte Fidelma. »Ihr Tod wurde dadurch verursacht, dass ihr der Schädel eingeschlagen wurde, nicht durch die Klinge des Messers, das ihr Gesicht zerstörte. Zumindest war dies kein Überfall von Räubern.«
»Wie kannst du so sicher sein?«
»Wir haben festgestellt, dass das Mädchen nicht missbraucht wurde. Und doch war dieser Überfall auf die Schwester durch Hass motiviert.«
Ballgel starrte ihre Freundin verwundert an.
»Wieso sagst du das?«
»Halten wir erst einmal fest, dass es kein Raubüberfall war. Ein Dieb will etwas stehlen. Es stimmt, dass einige Diebe sich so weit vergessen haben, dass sie Ordensschwestern missbraucht haben. Hier wurde jedoch nichts gestohlen. Das Kruzifix der Schwester hängt noch um ihren Hals. Es war kein sexueller Übergriff. Was bleibt als Motiv übrig, das jemanden dazu treiben könnte, einer Frau den Schädel einzuschlagen, sie an einen Baum zu binden und ihr das Gesicht zu zerschneiden? Da bleibt doch gewiss nur Hass?«
»Das Heilige Blut der Seligen Gertrude ist nicht mehr in ihrem marsupium«, erwähnte Ballgel. »Ich habe überall nach der Phiole gesucht. Die ist wertvoll. Aber vor allem: wo ist Schwester Della?«
Fidelma holte tief Luft.
»Für euch ist vielleicht das Heilige Blut wertvoll, ja. Aber für einen Dieb nicht. Es hätte keinen Zweck, es zu stehlen, denn wie sollte man es zu Geld machen?«
»Brauchen Diebe und Räuber denn einen Zweck?«
»Alle Menschen brauchen einen Zweck. Selbst die, die wir für verrückt halten, folgen einer Logik, die vielleicht nicht die unsere ist, sondern eine, die ihren eigenen, selbst erdachten Regeln folgt. Sobald man einmal die Logik begriffen hat, ist es ganz leicht, sie nachzuvollziehen.«
»Und was ist mit Schwester Della?«
Fidelma nickte. »Das ist das eigentliche Geheimnis. Wenn wir sie finden, entdecken wir vielleicht auch die fehlende Phiole. Hat man schon nach ihr gesucht?« Diese Frage stellte sie dem Abt.
Abt Heribert schaute Fidelma mit säuerlicher Miene an.
»Noch nicht. Und wer bist du?«
»Schwester Fidelma ist Anwältin an unseren Gerichtshöfen«, erklärte Äbtissin Ballgel eilig, nachdem sie den spöttischen Ausdruck auf dem Gesicht des Abts wahrgenommen hatte.
»Haben Frauen in eurem Land wirklich einen solch hohen Stand?«, erkundigte er sich erstaunt.
»Ist das so seltsam?«, fragte Fidelma ärgerlich zurück. »Jedenfalls verschwenden wir kostbare Zeit. Wir müssen Schwester Della finden, denn sie ist vielleicht in Gefahr. Wenn Schwester Cessair nicht beraubt und nicht vergewaltigt wurde, dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass sie aus einem privaten Motiv getötet wurde. Ihr zerschnittenes Gesicht lässt auf eine Boshaftigkeit schließen, die mir kalte Schauer über den Rücken jagt. Wer hätte so wütend auf sie sein können, dass er versuchen würde, ihre Schönheit zu zerstören? Es ist, als hätte sie ein eifersüchtiger Liebhaber überfallen. Denn es ist ja bekannt, dass Hass und Liebe nur zwei Seiten der gleichen Medaille sind.«